

Beschreibung
Die Weimarer Republik, deren Gründung sich nun zum 100. Mal jährt, ist dafür bekannt, furios gescheitert zu sein. Um das Scheitern der ersten deutschen Demokratie zu erklären, rekonstruiert diese Untersuchung das Denken der Zeit anhand des Begriffs der Konting...Die Weimarer Republik, deren Gründung sich nun zum 100. Mal jährt, ist dafür bekannt, furios gescheitert zu sein. Um das Scheitern der ersten deutschen Demokratie zu erklären, rekonstruiert diese Untersuchung das Denken der Zeit anhand des Begriffs der Kontingenz. Dabei entstehen zehn Porträts - von Oswald Spengler über Ernst Jünger bis hin zu Walter Benjamin und Carl Schmitt -, die eine tief gehende Einführung in das politische Denken der Zeit bieten. Zugleich wird an ihnen deutlich, wie das Denken in den 1920er-Jahren dazu beitrug, die Republik zu destabilisieren. Gerade heute sind diese Überlegungen von höchster Relevanz.
»Hier werden nicht pauschal Ideologien einander gegenübergestellt []. [] die Auswahl der Autoren [ist] erfrischend und zeigt das denkerische Potenzial dieser Epoche.« Marcus Llanque, Politische Vierteljahresschrift (62), 175178, 08.01.2021
Autorentext
PD Dr. Michael Geronimo Festl ist seit 2013 Ständiger Dozent für Philosophie an der Universität St. Gallen.
Leseprobe
Vorwort Wo denn die Parallelen zwischen der Weimarer Zeit und heute liegen, war die Frage, die mir am häufigsten gestellt wurde, während ich an dem vorliegenden Projekt arbeitete. Meist ging diese Frage mit einer pessimistischen Erwartung einher, wonach vordringlich sei, dass auch wir heute in einer gefährdeten Zeit leben würden, auf einer demokratisch abschüssigen Bahn. In der Tat drängen sich einige negative Parallelen auf - steigender Nationalismus und der Aufstieg autokratischer Herrscher als die wohl vordringendsten. Doch unter der Annahme, dass wir unser politisch-gesellschaftliches Schicksal selbst in der Hand haben, gibt es keine Notwendigkeit, sich auf die zweifellos vorhandenen negativen Parallelen zu versteifen. Dies erst recht, wo doch eine der offensichtlichsten Parallelen darin besteht, dass damals wie heute der Glaube Konjunktur hatte, der Liberalismus - verstanden als das Vertrauen auf eine freiheitliche Rechtsordnung, auf das fruchtbare Zusammenspiel emanzipierter Intelligenzen und auf die universale Verbesserungsfähigkeit des Menschen - habe seine besten Tage hinter sich. Dem war, obwohl dem Liberalismus in Weimar, wie wir im Folgenden sehen werden, immer wieder die Todesmesse gelesen wurde, nicht so. Wie wir heute wissen, hatte er zur Zeit der ersten gesamtdeutschen Republik, eine seiner stärksten Phasen erst noch vor sich. Den weitverbreiteten Glauben an den Untergang des Liberalismus ein weiteres Mal zu falsifizieren, scheint mir heute unsere wichtigste Aufgabe zu sein, mit dem Unterschied, dass es dieses Mal gelingen muss, ohne davor einen Weltkrieg zu durchleben. Mein Ziel für die nächsten Jahre wird daher darin bestehen, mit publizistischen Mitteln dazu beizutragen, den Liberalismus zu revitalisierten. Das Projekt, das ich hier präsentiere, ist die gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2017 von der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen angenommen wurde. Für hilfreiche Anregungen danke ich den Gutachtern Martin Hartmann, Caspar Hirschi, Philip Kitcher, und Michael Quante. Der wichtigste akademische Dank geht wie schon bei meiner Dissertation an Dieter Thomä. Ohne seine kritischen Interventionen und klugen Ratschläge hätte ich dieses Projekt nicht zur Publikationsreife treiben können. Der Dank an meine Frau und geistige Sparringspartnerin Diana geht über das hinaus, was ich mit Buchstaben auszudrücken vermag. Steisslingen, 10. August 2018 Der Erste Weltkrieg als deutscher Kontingenzschock und die Rolle der Demokratie Mehr noch als der Zweite löste der Erste Weltkrieg einen mentalitätsgeschichtlichen Schock aus. Dieser Krieg, von den Zeitgenossen als der Große tituliert, "zerbrach de[n] geschichtsphilosophische[n] Optimismus, der das 19. Jahrhundert hindurch vorgeherrscht hatte" (Münkler 2013: 795) und markierte den "Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters" (Mommsen 2004, Untertitel). Gerade auch für viele Intellektuelle war vor dem Krieg das Gefühl entstanden, die Menschheit wandle auf einem Pfad des gesellschaftlichen Fortschritts, ein Pfad, der sowohl ökonomisch als auch politisch nur eine Richtung kennt: aufwärts. "Die junge Generation spürt die Sekurität und blickt erwartungsvoll in die Zukunft", lässt Kiesel über diejenigen verlauten, die in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts geboren wurden (2007/2009: 20). Stefan Zweig, Jahrgang 1881, beschreibt das Lebensgefühl vor 1914 mit den Worten: "Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. [] Jeder wusste, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. Wer ein Vermögen besaß, konnte genau errechnen, wieviel an Zinsen es alljährlich zubrachte, der Beamte, der Offizier wiederum fand im Kalender verlässlich das Jahr, in dem er avancieren werde und in dem er in Pension gehen würde." (1942/2012: 15) Dabei zerstörte der Beginn des Ersten Weltkriegs nicht nur materielle Hoffnungen. Er vernichtete, wofür wiederum Stefan Zweig ein gutes Beispiel abgibt, auch die idealistische Hoffnung auf ein Europa, das in Brüderlichkeit und Frieden vereint ist. Und für diejenigen, welche - vielleicht, weil sie Leser Nietzsches waren - schon geahnt hatten, dass die Diagnose vom Zeitalter der Sicherheit eine Fehldiagnose darstellt, war der Erste Weltkrieg ein Schock, weil er mit Giftgas, Verdun und Schützengraben alles viel schlimmer hatte kommen lassen, als wohl selbst der Pessimistischste es sich ausgemalt hatte. Diese und ähnliche Analysen eines Schocks treffen nicht nur für Deutschland und Österreich zu. So berichtet John Garth für die Vorkriegsverhältnisse in England: "Trotz der Arbeiterunruhen, der Unabhängigkeitsbestrebungen in Irland und einer zunehmend streitbaren Frauenrechtsbewegung, war [die Ära vor dem Ersten Weltkrieg; M. F.] für viele Briten eine Zeit der Ruhe und des Wohlstands mit wenig Zukunftssorgen. Nur das tragische Scheitern von Captain Robert Scotts Antarktisexpedition und der Untergang der Titanic, beides 1912, trübten diese Sorglosigkeit." Der Tag, an dem der Große Krieg ausbrach, habe diese "alte Welt" beendet (2003/2014: 43 und 63). Und aus Frankreich heraus stellte der Zeitgenosse Paul Valéry nach dem Krieg fest: "Nicht alles ist untergegangen [im Ersten Weltkrieg; M. F.], aber alles hat den Untergang gefühlt. Ein Schauer ohnegleichen hat Europa bis ins Mark durchbebt." (1924/1956: 7) Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, so das paneuropäische Gefühl, markierte das Ende einer Ära, eine Ära, welche die Mehrheit der Beobachter optimistisch gestimmt hatte. Doch vor allem in Deutschland kam noch hinzu, dass es viele Menschen gab, für die auch das Kriegsende keine Erleichterung brachte, sondern - ganz im Gegenteil - neue Schocks. Manche Kreise fielen ob der Tatsache aus den Wolken, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Dies passte nicht mit dem Gefühl von vor dem Krieg zusammen, dass sich das Land auf der industriellen, aber auch auf der militärischen, ja vielleicht sogar auf der kolonialen Überholspur befand, sich anschickte, England vom Thron zu stoßen. Für diese Kreise zerstörte das Ende des Krieges die Allmachtsphantasie deutscher Herrlichkeit. Für wieder andere - und dies waren sehr viele - stellte der Versailler Vertrag als das Dokument, welches den Krieg offiziell beendete, einen (weiteren) Schock dar, schien er ihnen mit Kriegsschuldklausel und Reparationsverpflichtungen eine neue deutsche Unterlegenheit, sowohl auf moralischem als auch auf politischem und ökonomischem Gebiet zu zementieren. Hinzu kamen der Schock über Gebietsverluste, der Schock des untergegangenen Kaiserreichs, die ökonomischen Schocks, vor allem die Inflation, wie sie die ersten Jahre nach Kriegsende kennzeichneten, die roten Schocks der Räterepubliken insbesondere in München und…
