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Die Traditionen chinesischen Wissens - die Auseinandersetzung mit sinitischen Texten und Ideen - prägten Japans Blick auf die Welt und dessen Reaktion auf die Globalisierung des 19. Jahrhunderts. Zugleich wurden sie selbst von den Folgen globaler Integration beeinflusst. Vom frühneuzeitlichen Konfuzianismus bis zur Sinologie des Kaiserreichs, von der Dichtung bis zur Sprachwissenschaft: Diese Studie beschreibt erstmals umfassend die Transformation eines Wissensfelds, dessen Erforschung oft von der Fixierung auf den Einfluss westlicher Wissenschaften gehemmt wurde, das für ein tieferes Verständnis der japanischen Geschichte jedoch unentbehrlich ist.
Globalgeschichte: Herausgegeben von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Margrit Pernau
Autorentext
Michael Facius, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin.
Leseprobe
Einleitung Japan stand im 19. Jahrhundert vor der kritischen Aufgabe, seinen Platz in einer gerade entstehenden globalen Ordnung zu behaupten, die von Europa und den Vereinigten Staaten dominiert wurde. Um dem Umfang dieser Aufgabe zu erfassen und sie zu bewältigen war systematisches, gelehrtes Wissen unentbehrlich: Wissen über die Welt und die westlichen Länder, ihre diplomatischen Gepflogenheiten und Waffentechnologien, Institutionen und Ideen. Die Gelehrten, die dieses Wissen schufen, bewegten sich in einer Wissenskultur, die sich auf "chinesisches Wissen" gründete. Diese Wissenskultur prägte die Art und Weise, wie Japan der Globalisierung des 19. Jahrhunderts, also dem Prozess und den Wirkungen globaler Integration, gegenübertrat. Zugleich veränderte sich dadurch chinesisches Wissen selbst. Die Institutionen und Themen am Ende des Jahrhunderts, der gesellschaftliche Status, ja sogar die Begriffe, mit denen man darüber sprach, hatten nur noch entfernte Ähnlichkeit mit ihren Vorläufern von 1800. Die Transformation chinesischen Wissens und die Dynamik wechselseitigen Einflusses von Wissensproduktion und Weltordnung, in der sie sich vollzog - das sind die Themen dieser Studie. Annäherung an den Begriff Da der Begriff "chinesisches Wissen" weder in den Quellen noch in der Literatur auftaucht, ist einleitend zumindest vorläufig zu klären, was damit gemeint ist. Die historischen Akteure und die Forschung kennen eine Reihe von verwandten Bezeichnungen: kangaku und shinagaku im Japanischen, "Chinese learning" im Englischen, Sinologie im Deutschen. Hinzu kommen Begriffe wie Konfuzianismus, die sogenannte "traditionelle chinesische Medizin", aber auch die chinesische Schriftsprache und ihre Erzeugnisse. Innerhalb dieses Wortfelds hat sich die Forschung hauptsächlich an drei Bezeichnungen orientiert: Kangaku, Sinologie und Konfuzianismus. Wie weiter unten ausführlicher besprochen wird, sind diese jedoch aus drei Gründen unvorteilhaft. Erstens sind sie recht eng gefasst: Sinologie verweist üblicherweise auf ein akademisches Fach, Konfuzianismus auf ein Denksystem, Kangaku auf eine Texttradition. Zweitens fluktuieren die Gegenstände, die sich dahinter verbergen, im Verlauf des 19. Jahrhunderts; die Sinologie tritt sogar erst um 1900 in Erscheinung. Drittens ist die Forschung, die unter diesen drei Überschriften betrieben wurde, jeweils mit einflussreichen Erzählungen verbunden, die häufig Blick auf umfassendere Fragen verstellt haben. Über Sinologie wurde häufig als imperiale Wissenschaft gesprochen, über Kangaku als untergehende Tradition, über Konfuzianismus als feudale Ideologie - und alle drei sind mit dem Meisternarrativ der "Modernisierung" verknüpft. "Chinesisches Wissen" bringt demgegenüber die beiden Vorteile mit, nicht belegt und inklusiv zu sein. Es eignet sich daher dazu, lose ein Wissensfeld zu umschreiben, welches sich aus einer Vielzahl von beständig in Veränderung begriffenen Kategorien, Konzepten und Diskursen, aber auch Praktiken, Institutionen und Akteuren zusammensetzt. Dazu gehören Kangaku, Sinologie und Konfuzianismus, aber auch Poesie oder Medizin. Ein solch weiter Begriff macht es erstmals möglich, Forschungsfelder zusammenzubringen, die bisher separat bearbeitet wurden und sie auf ihre Beziehungen zueinander zu befragen. Das erweist sich als nötig, um den Wissenswandel und damit ein zentrales Problem der japanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts umfassender zu verstehen. Ein weiterer Vorzug des Begriffs ist die Unbestimmtheit des Attributs "chinesisch". Je nach Akteur und Kontext konnte damit Wissen aus China, Wissen über China, Wissen, das zu China gehört, oder auch Wissen in chinesischem Stil gemeint sein. Ob die "chinesischen" Schriftzeichen zu Japan gehörten oder "chinesischer" Konfuzianismus universell gültig war, darüber hatten schon japanische Intellektuelle ganz unterschiedliche Vorstellungen. Erst recht lässt sich für Historikerinnen heute ein Wissensfeld, das über Jahrhunderte in einem transnationalen Raum über Sprach- und Landesgrenzen hinweg gepflegt wurde, nur mit Verlusten in nationale Schubladen stecken. Diese Studie entscheidet deswegen nicht im Vorhinein über Fragen von Herkunft und Zugehörigkeit, sondern macht es sich zur Aufgabe, wechselnde Vorstellungen über das Verhältnis von Land (Nation, Kultur) und Wissensbestand systematisch in Augenschein zu nehmen. Zwei grundlegende Zuschnitte machen dieses schon gefährlich weite Feld handhabbar. Zum einen soll hier gelehrtes, systematisches, institutionalisiertes Wissen im Vordergrund stehen. Im Laufe des Untersuchungs-zeitraums änderte sich freilich, welches Wissen als gelehrt angesehen wurde, welches dagegen als religiös, welches Wissen in Akademien institutionell produziert wurde und welches von interessierten Einzelpersonen, und so fort. Doch folgt aus einem solchen Zuschnitt, dass literarische Verarbeitungen von Chinareisen oder auch Gedichte von Literaten in chinesischem Stil eher untergeordnete Rollen einnehmen. Zum anderen konzentriert sich die Studie auf textbasiertes Wissen und klammert damit chinesische Medizin, chinesische Malerei oder Architektur ein. Solche Wissensformen werden im Verlauf der Darstellung angesprochen, insoweit ihre Gegenüberstellung einzelne Argumente zusätzlich beleuchten hilft. Der Grund für diese Eingrenzung ist einfach: textbasiertes, systematisches Wissen genoss am Ausgangspunkt der Studie das höchste Prestige und hatte die größte Prägewirkung auf die Wissenskultur, bildete mithin ihren Kern. Zudem wurde das Scharnier von Wissensordnung und Weltordnung - mit anderen Worten Diskurse über die Zweckbestimmungen von Wissen, über seine politischen Funktionen und über den Platz Japans und Chinas in der Welt - zum überwiegenden Teil schriftlich in systematischen, gelehrten Zusammenhängen hergestellt und reproduziert. Einen ersten Einblick in die Fragen und Spannungsverhältnisse, die diese Geschichte chinesischen Wissens antreiben, gibt ein Holzdruck mit dem Titel "Szenerie der ehemaligen Heiligen Halle von Yushima" (vgl. Abb. 1). Der Druck entstand im Jahr 1879, also inmitten der Umwälzungen, um die es Folgenden geht. Er zeigt den Weg von Yushima nach Kan-da, zwei Quartiere im nördlichen Zentrum Tokyos. Rechts säumt eine Böschung den Pfad, links ein umfriedetes Wäldchen. Zeitgenössische Be-trachter wussten: Hinter der Baumreihe thront die Halle, nach der das Bild benannt ist. Noch zehn Jahre zuvor war sie Teil einer bedeutenden staatlichen Bildungs- und Forschungsanstalt mit dem Namen "Sh?hei-Akademie" gewesen und außerdem Stätte regelmäßiger Feierlichkeiten zu Ehren des Konfuzius. Inzwischen hatte sie mehrere Umwidmungen hinter sich, diente eine Zeitlang als Ausstellungsraum und Museum. Mehr noch als das Grün ziehen die Telegrafenmaste den Blick auf sich, die sich filigran gegen den Himmel strecken. Abb. 1: "Ansicht der ehemaligen Heiligen Halle von Yushima" (Kobayashi Kiyochika, 1879) (Quelle: T?ky? toritsu ch?o toshokan tokubetsu bunko shitsu) Der …