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Die Occupy-Bewegung verbreitete sich ab Herbst 2011 global und bildete damit den Höhepunkt eines protestreichen Jahres. Anhand der Platzbesetzungen in New York und London arbeitet der Band die neue Form des politischen Handelns heraus, die aus die im kollektiven Experimentieren entstandene Praxis der Demonstrativen Reproduktion. Diese gewann für die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung eine größere Bedeutung für ihren politischen Protest als konkrete Forderungen an Regierung, Parteien und Wirtschaft.
Autorentext
Johannes Diesing ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für das Politische und Soziales System Deutschlands/Vergleich politischer Systeme der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Leseprobe
Vorwort Claus Leggewie Occupy ist eine viel beschworene und von Beginn an positiv wie pejorativ mystifizierte Bewegung, die man nach der Lektüre der Arbeit von Johannes Diesing besser versteht und beurteilen kann. Was aber ist der besondere mediale Zug dieser globalen Bewegung? Weil sie transnational ist, weil sie auf diskursiven Konsens setzt und weil sie ein hohes Maß an Wissen voraussetzt, ist sie im Grunde ideal für virtuellen, nicht ortsgebundenen und zeitversetzten Austausch und eine deliberative Demokratie, die digitale Informations- und Kommunikationstechnologien der Welt in den 1990er Jahren annonciert und versprochen hatten. Johannes Diesing zeigt nun aber, im Bezug auf raumsoziologische Studien von Martina Löw und anderen, wie wesentlich der Raum hier ein konkreter Ort handlungskonstitutiv auch für Protestbewegungen ist und ein Medium seiner Konstitution durch sayings and doings. Die Occupy Bewegung versuchte in der General Assembly die Kommunikation vor allem auf eine Nutzung von primären Medien aufzubauen. Das heißt das Gespräch face-to-face bzw. das unmittelbare Adressieren der Anwesenden in der Gruppe stand stets im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine pragmatische Entscheidung. Von den ersten Vorbereitungstreffen im August 2011 an, hat die versammelte Gruppe gleichzeitig immer auch eine Ausdrucksfunktion: Wir sind hier, wir besetzen diesen vor uns liegenden, einzusehenden und zu erspürenden Platz und nutzen seine »Aura«. Durch das Regime der Sicherheits- und Ordnungsgesetze in New York war diese nicht angemeldete Versammlung im Tompkins Square Park, Schauplatz zahlreicher historischer Auseinandersetzung vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, eine Form zivilen Ungehor- sams . Wichtig ist die personale Begegnung in der General Assembly als Forums-Öffentlichkeit, an dem verbindliche Absprachen getroffen werden, denn sie soll ganz praktisch den Bruch mit dem von der Occupy-Bewegung kritisierten Repräsentationsprinzip erfahrbar machen . Die Versammlung ist in diesem Sinne selbst ein Medium, das die Botschaft »Eine andere Welt/eine andere Politik ist möglich« plausibel machen kann. Buchstäblich auf die Spitze getrieben wurde die Medialität des Raumes in der Nutzung des Human Mic während einer General Assembly . Der Raum der Versammlung ist hier nicht nur ein Medium in der Weise, dass die Ansammlung von Menschen die Präsenz der Occupy Bewegung wahrnehmbar macht; vielmehr ist das gemeinsame Wiederholen der Wortmeldungen in einem ganz buchstäblichen Sinne ein akustischer Verstärker der jeweiligen Botschaft. Von diesem Lautsprecher-Effekt abgesehen erzeugt interaktionale Synchronisation Gefühle von Empathie und Verbundenheit und befördert prosoziales Verhalten. Die Occupy-Bewegung wollte nicht nur ihren Dissens zu bestehenden kapitalistischen Verhältnissen programmatisch deutlich machen, sie wollte ihre Absicht, Werte zu schaffen ohne die private Aneignung eines Profi gewissermaßen leben und lebendig demonstrieren. Der mediale Effekt zielt also nach innen und außen. Hier werden nicht Massenmedien für Programmatik, Mobilisierung und Kommunikation eingesetzt, sondern die Massen, besser das anwesende, überschaubare Kollektiv wird selbst zum Medium. Es gibt hier durchaus Berührungen mit der frühen Arbeiterbewegung und Anklänge an die »proletarische Gegenöffentlichkeit«, die Negt und Kluge in ihrem grundlegenden Werk »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) beschrieben haben. Anzumerken wäre noch, dass die »Piraten«-Bewegung, die programmatisch in vieler Hinsicht ähnliche Ziele vertritt wie Occupy, einen anderen Weg gegangen ist. Während Occupy die Kommunikation gezielt »subjektiviert« hat, konstruiert »Liquid Democracy«, das von den Piraten bevorzugte und weiterentwickelte Format, eine algorithmische und insofern »objektivierte« Plattform. Jede Revolte frisst aber ihre Kinder. Aufgrund der intensiven Beobachtung von Occupy durch die elektronischen Massenmedien und die Binnenkommunikation über soziale Medien, die für die Mitwirkenden als generalisierte Kulturtechnik zur zweiten Natur geworden ist, wächst die extreme Aufmerksamkeit und gerät diese Strategie der unmittelbaren Begegnung in Schwierigkeiten . Die sozialen Medien geraten dadurch aus der Rolle der »technischen« Unterstützung lebensweltlicher Echtzeitkommunikation in ein selbst konstitutives Medium. Und dieses bleibt auch nicht »unschuldig«, denn der scheinbar von den Inhalten absehende Kommunikationsfluss digitaler Medien ist natürlich geprägt von den Eigentumsverhältnissen und der Kontrollmacht der Medienkonglomerate, die den Löwenanteil des Datenverkehrs in den sozialen Medien, Suchmaschinen und Online-Handelsunternehmen organisieren und für ihre Zwecke nutzen . Auch Occupy wurde ebenso wenig eine »facebook-Revolution« wie der arabische Frühling. Johannes Diesing hat eine Arbeit vorgelegt, die sowohl für Protest- und Raumforscher*innen interessant als auch unter medientheoretischen Gesichtspunkten von großem Interesse ist. 1 Einleitung »[Die] Gruppe der Steuerflüchtlinge umfasst in jedem Land nur einige Tausend oder Zehntausend Personen. Doch aufgrund ihrer klangvollen Namen, die für große Unternehmen oder herausragende Sportler- und Künstlerkarrieren stehen, sind sie zu skandalösen Symbolen des sich vollziehenden Separatismus geworden. Abgesehen von solch Extremen schafft die Distanzierung des einen Prozents der Superreichen vom Rest der Bevölkerung die generelle Voraussetzung für eine explosive Spaltung.« Rosanvallon 2013, S . 330 »Der Zynismus war überall, in den Wohnzimmern und Bars hörte sie nichts als Klagen, aber die Wut reichte nie ganz aus, um das knochentrockene Holz zu entzünden bis zu jenem Samstag kurz nach dem zehnten Jahrestag von 9/11, als eine kleine Gruppe in unmittelbarer Nähe von Ground Zero das Feuer entfachte .« Packer 2014, S. 422 »And then every now and then, the possibilities explode. In these moments of rupture, people fi themselves members of a we that did not until then exist [].« Solnit 2016, S . XXV In der vierten Folge der zweiten Staffel der amerikanischen Fernsehserie The Newsroom interviewt der von Jeff Daniels gespielte Will McAvoy eine Vertreterin von Occupy Wall Street (Sorkin 2013). Der Anchor der im Zentrum der Serie stehenden Sendung The Newsroom kritisiert dabei nicht nur mit einer herablassenden Haltung die Aktivistin, sondern demütigt sie vor laufenden Kameras mit Fangfragen . Diese 2013 ausgestrahlte Folge der erfolgreichen HBO-Serie setzt die ambivalente Beziehung zwischen den New Yorker Aktivist*innen und den Fernseh- und Printmedien in Szene. Occupy Wall Street wurde in der Presse u.a. als eine diffuse Versammlung von Aktivist*innen beschrieben, die nicht leicht von einem Straßentheater zu unterscheiden sei (Bellafante 2011). Die Besetzer*innen des Parks seien nicht nur unorganisiert, sondern wirkten bisweilen auch uninformiert (Goldstein 2011) . Daher sei es auch schwer, einen Protest ernst zu nehmen, der mehr wie ein Zirkus ausschaue (Weiss 2011). Diese in den Leitartikeln und Kommentarseiten geäußerte große Skepsis gegenüber Occupy fi Anfang Oktober 2011 in die Zeit einer vom Meinungsforschungsunter- nehmen ABT SRBI durchgeführten Telefonumfrage des Time Magazine, die einerseits großes Mi…