

Beschreibung
Die Idee des partizipativen Haushalts von Porto Alegre hat sich von Brasilien aus weltweit verbreitet. Spätestens seit dem Protest gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs wird die Übertragung von Entscheidungskompetenzen an die Bürgerschaft bundesweit di...Die Idee des partizipativen Haushalts von Porto Alegre hat sich von Brasilien aus weltweit verbreitet. Spätestens seit dem Protest gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs wird die Übertragung von Entscheidungskompetenzen an die Bürgerschaft bundesweit diskutiert. Doch wie lassen sich Deliberation und Macht verbinden? Am Beispiel von Bürgerhaushalten in Lateinamerika und Europa erörtern US-amerikanische, brasilianische und europäische Autoren die Bedingungen für eine Erneuerung der Partizipationskultur in Deutschland.
Autorentext
C. Herzberg, Dr. rer. pol., ist wiss. Mitarbeiter an der Universität Potsdam. H. Kleger ist dort Professor für Politische Theorie. Y. Sintomer ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Paris.
Leseprobe
Vor über 500 Jahren zogen von Europa Karavellen los, um eine neue Welt zu entdecken. Die Begeisterung darüber war allerdings nicht ungeteilt, denn für die Bewohner des lateinamerikanischen Kontinents war die Ankunft der Europäer bald mit Unterwerfung und Ausbeutung verbunden. Und obwohl sich im Laufe der Jahrhunderte vieles änderte, autonome Staaten entstanden, soziale Bewegungen für Verbesserungen kämpften, blieb lange Zeit eine gewisse, nicht zuletzt auf wirtschaftlichen Verhältnissen beruhende Ungleichheit bestehen. In letzter Zeit wurden allerdings emanzipatorische Wege beschritten, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Um ein Zeichen zu setzen, proklamierten Bewohner des Kontinents zur Wende des 21. Jahrhunderts, dass nun die "anderen" 500 Jahre begonnen hätten. Gemeint ist damit eine Zeit des gegenseitigen Austauschs, des Respekts und eines Lebens in Würde und sozialer Sicherung. Die in den 1990er Jahren in Brasilien erfundenen Bürgerhaushalte sind Ausdruck eines solchen post-kolonialen Aufbruchs. Sie stehen für eine Demokratisierung der Demokratie, indem sie klientelistische Strukturen, die oft Erbe alter Abhängigkeiten sind, durch eine Beteiligung breiter Bevölkerungsgruppen zu überwinden suchen. Darin eingeschlossen ist zumindest eine Dämpfung sozialer Ungerechtigkeiten: Aufgrund von Verteilungskriterien sollen von einer Bürgerbeteiligung am Haushalt vor allem diejenigen profitieren, die am meisten auf Unterstützung angewiesen sind. Bürgerhaushalte, von denen es in Lateinamerika über 500 gibt, sind inzwischen fester Bestandteil von Armutsbekämpfungsstrategien internationaler Organisationen. Von dieser Entwicklung blieb Europa nicht unberührt. Es war kein Zufall, dass im brasilianischen Porto Alegre das erste Weltsozialforum der globalisierungskritischen Bewegung stattgefunden hat. In Porto Alegre wurde der Bürgerhaushalt erfunden und die Stadt wurde aufgrund seines Erfolges zur "Welthauptstadt der Demokratie" gekürt. Ab dem ersten Weltsozialforum im Jahr 2001, bei dem politische Aktivisten aus verschiedenen Kontinenten zusammenkamen, stieg die Zahl der Bürgerhaushalte in Europa von weniger als ein Dutzend auf heute mehr als 250 an. Im gewissen Sinne kann diese Entwicklung als eine "Rückkehr der Karavellen" verstanden werden: Eine Innovation aus Lateinamerika wird in Europa aufgegriffen. Mit der Übertragung auf den alten Kontinent differenzierten sich allerdings die Bürgerhaushaltsverfahren aus. Man kann nicht mehr von dem einen Bürgerhaushalt aus Porto Alegre sprechen, sondern es entwickelten sich verschiedene Ansätze, um Bürger in die Haushaltsplanung einzubeziehen. Diese Vielfalt ist die Grundlage eines Austausches, der heute auf gleicher Augenhöhe stattfindet. Lateinamerikaner und Europäer, Brasilianer und Deutsche berichten wechselseitig von ihren Erfahrungen - ein Vorgehen, das auch diesem Buch zugrunde liegt. In Deutschland spielen Bürgerhaushalte wie kein anderes Instrument der freiwilligen Bürgerbeteiligung eine wichtige Rolle bei der Diskussion über eine Erweiterung von Partizipationsmöglichkeiten. Auf den ersten Blick gibt es zwar nur 30-40 Städte mit einem aktiven Bürgerhaushalt, jedoch hat die Diskussion inzwischen weite Kreise gezogen (Franzke/ Kleger 2010). So wird davon ausgegangen, dass sich ein Drittel aller Kommunen mit mehr als 25.000 Einwohnern in irgendeiner Weise mit dem Thema Transparenz und Mitsprache am Haushalt beschäftigt, ohne dass es sich dabei um Bürgerhaushalte im engeren Sinne handeln muss. Bisheriger Höhepunkt dieser Entwicklung ist das Jahr 2011, in dem die Bertelsmann Stiftung den internationalen Reinhard Mohn Preis der brasilianischen Stadt Recife für ihren Bürgerhaushalt verliehen hat (Bertelsmann Stiftung 2011). Mit dieser Würdigung für Best Practice wird 500 Jahre nach der Entdeckung des lateinamerikanischen Kontinents eine Kommune aus einem Land des globalen Südens zum Vorbild für eine Vertiefung lokaler Demokratie in Deutschland. In dieser Hinsicht steht der vorliegende Sammelband in der Tradition einer "globalen und transnationalen Geschichtsschreibung", die auf internationaler Ebene zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Preisvergabe an eine brasilianische Bürgerhaushaltskommune kommt nicht von ungefähr. Spätestens mit der bundesweiten Sichtbarkeit der Protestbewegungen gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes hat hierzulande ein neues Nachdenken über Bürgerbeteiligung begonnen. Es ist inzwischen allgemein Konsens, dass Bürgerinnen und Bürger in Zukunft mehr einbezogen werden sollen. Der Weg ist jedoch noch unklar: Während die einen von einer besseren Kommunikation sprechen, fordern die anderen konkrete Mitsprache und Entscheidungsbefugnisse. Politische Mandatsträger, Verwaltungen, Bürger und Protestgruppen haben mitunter sehr unterschiedliche Vorstellungen von Partizipation. Oft werden diese Kontroversen verdrängt, weil sie als Hindernis angesehen werden. Allerdings besteht somit die Gefahr, dass Bürgerbeteiligung unbefriedigend bleibt. Am Ende stehe eine Lösung, mit der Planer ihr Handeln zu legitimieren suchen, die betroffenen Bürger setzen jedoch ihren Protest fort, weil ihre Argumente nicht berücksichtigt wurden. So etwa nach dem Schiedsspruch von Heiner Geißler über den Weiterbau des Tiefbahnhofs in Stuttgart, wo die mächtigen Akteure der Bahn sich bestätigt fühlten und die Bürgerbewegung, oder zumindest Teile davon, sich mit dem Urteil nicht abfinden konnten. Der vorliegende Sammelband nimmt das Stuttgarter Beispiel als Anlass, um die These zu formulieren, dass die unterschiedlichen Erwartungen an Partizipation nicht verdrängt werden dürfen, sondern dass eine Klärung der Machtfrage und die Qualität der Diskussion wichtige Voraussetzungen für eine wirkungsvolle Partizipation sind. Denn wenn einerseits Bürger das Gefühl haben, keinen Einfluss zu haben, werden sie sich enttäuscht abwenden oder zumindest ihr Engagement auf ein Minimum reduzieren. Andererseits werden sich Verwaltungen und Politiker kaum auf Verfahren einlassen, wenn sie nicht durch einen Informationsgewinn zu besseren Entscheidungen führen. Erst in dieser Weise wird Partizipation nicht - wie vielfach in den Medien befürchtet - zu einem "Fortschrittsverhinderer", sondern sie nutzt das Wissenspotenzial der Bürgerschaft zur Erarbeitung allgemein akzeptierter Lösungen. Schaut man sich die Diskussion über Bürgerbeteiligung an, so waren Macht und Deliberation lange Zeit getrennt. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren entstanden Forderungen nach einer partizipativen Demokratie. Von wissenschaftlicher Seite wurde diese Debatte vor allem durch Autoren wie Carole Pateman (1970), C.B. Macpherson (1977), Nicos Poulantzas (1978) und anderen geprägt. Sie sprachen sich für eine weitreichende Partizipation aus, vernachlässigten jedoch vertiefende Überlegungen über eine qualitätsvolle Debatte. Im Gegensatz dazu haben andere, wie Peter Dienel (1978) oder Jürgen Habermas (1985) in Deutschland, den Fokus auf eine gute Deliberation gelegt, jedoch die Frage der Entscheidung weitgehend ignoriert. Zeitgleich zu den theoretischen Auseinandersetzungen gab es in der Praxis eine Öffnung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, so wurde zum Beispiel eine Beteiligung in Kindergärten, Schule…
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