

Beschreibung
Das atemlose, sprachlich brillante Debüt des Shootingstars aus London Ein heikler Balanceakt zwischen zwei Welten: Der Rausch von Gewalt inmitten der Betontürme im Norden Londons, nebenher ein Literaturstudium. Ein Leben, das unweigerlich die Frage nach Gut un...Das atemlose, sprachlich brillante Debüt des Shootingstars aus London
Ein heikler Balanceakt zwischen zwei Welten: Der Rausch von Gewalt inmitten der Betontürme im Norden Londons, nebenher ein Literaturstudium. Ein Leben, das unweigerlich die Frage nach Gut und Böse aufwirft. Gabriel Krauze schreibt mit ungeschönter Ehrlichkeit von seiner früheren Existenz. Ein atemloser, sprachlich brillanter Großstadt-Roman, der Gewalt und Tristesse eine eigene Poesie verleiht.
Autorentext
Gabriel Krauze wuchs in London auf und fühlte sich schon früh zu einem Leben der Gangs und Kriminalität hingezogen. Er hat diese Welt hinter sich gelassen und sie in seinem Schreiben verarbeitet. Seine Kurzgeschichten wurden in "Vice" veröffentlicht. "Beide Leben" ist sein Debütroman, stand 2020 auf der Longlist für den Booker Prize und 2021 auf derjenigen des Dylan Thomas Prize.
Leseprobe
NICHT INS GESICHT KUCKEN
Raus aus der Karre und ich steh auf dem Gehweg und das ist der Moment, wenn du aus dem Wagen springst und es ist zu spät umzukehren, wenn du weißt, dass dus definitiv tun wirst, obwohl dich die Art, wie dir das Adrenalin durch den Körper pumpt, eine Sekunde lang wünschen lässt, dass du ganz woanders wärst. Und jetzt wieseln wir die Straße runter und sie ist zu weit vor uns, unser Timing war scheiße, aber wir können nicht einfach losrennen, denn das alarmiert sie und dann dreht sie sich um, also möglichst leise möglichst schnell hinter ihr her. Meine Bala sitzt mir fest auf dem Gesicht und ich hab noch die Kapuze drüber und spüre, wie mir das Adrenalin in der Brust explodiert wie eine Supernova, es ist, als wäre mein ganzer Körper nichts als mein dröhnendes Herz.
Und ich komme näher an sie ran und Gotti ist direkt neben mir und sie hört uns nicht, nicht so, wie wir uns voranbewegen, niedrig über der Erde, schwarze Nike Trainingsanzüge aus Baumwolle, damit nichts raschelt. Die Nike-Sneakers geräuschlos auf den Gehwegplatten. Und ein paar Herzschläge lang wird mir bewusst, wie alles um uns herum den Eindruck von einem friedvollen Leben erwecken könnte, die Sonne über uns bläht sich im Himmelsbauch und taucht die Straße in eine Helligkeit, die alles durchbricht. Perfekte, ordentlich aneinandergereihte Häuser, gestutzte Büsche den Gehweg entlang, der kühle metallische Geruch des Morgens, und jetzt drückt die Frau ein Tor auf, biegt von der Straße und auf den schmalen Weg zu ihrem Haus.
Unser Timing war wirklich scheiße, aber wir können sie noch erwischen und sprinten los, versuchen immer noch, nicht aufzufallen, aber jetzt müssen wir richtig schnell sein, sonst ist sie weg, und wir biegen durch das kleine Tor, sie ist fast schon an der Haustür und sucht in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und wir schießen den Weg hoch und dann sind wir direkt hinter ihr und ich kann die Hand ausstrecken und ihr in die Haare greifen, ich rieche ihr Shampoo und wie weich sie sind, riech ihr teures Parfüm, das mich fast kotzen lässt, und in dem Augenblick fällt alles, was ich je gewusst hab, von mir ab, ist weg, Erinnerungen, Vergangenheit, Zukunft, und die Straße, der Morgen und alles andere um uns herum verschwindet, als vergäße ich die Welt, und da ist nur noch das Jetzt, kristallklar, auf der Türschwelle, und bevor ich meine Arme um ihren Hals bekomme, um sie ins Reich der Träume zu schicken, dreht sie sich um.
Und sie schreit. Sie sieht mich, das heißt meine Augen und einen Fetzen Mund durch die drei Löcher meiner schwarzen Bala und es ist, als kapierte sie den Albtraum, von dem sie nicht wusste, dass sie mittendrin ist, und wir wissen, das ist jetzt komplett verschissen, keine Chance mehr, das ruhig und unbemerkt durchzuziehn, und ich packe sie und drücke meinen Arm gegen ihre Kehle, dreh sie um und presse sie fest an mich und Gotti versucht, ihr die Cartier vom Handgelenk zu ziehn, aber aus irgendeinem verfickten Grund geht es nicht, und er reißt dran und das Metall gräbt sich in ihr Handgelenk und sie schreit, nimm sie nimm sie doch, und jetzt ist das Pumpen in meinem Herz und meinem Bauch völlig weg, weil wirs tatsächlich machen, nichts sonst existiert mehr in diesem Moment, alles ist ruhig und still in mir und ich sage ihr, hör verdammt auf, dich zu wehren, ins Ohr, aber Gotti kriegt die Uhr einfach nicht runter, obwohl sie ihm ihre Hand überlässt, und ich kann sehen, er kapiert nicht, was los ist, weil es noch nie so war, dass er eine Uhr nicht vom Arm runterkriegt, und die hier ist mit Diamanten besetzt und wir wollen sie unbedingt, weil sie leicht zehn, fünfzehn Riesen wert ist.
Und ich denke, scheiß drauf, wo sie schon so schreit, sinnlos, sie noch schlafen zu schicken, ich helfe lieber Gotti. Da öffnet sich die Haustür, knallweiß mit einem Messingklopfer, und da steht ein Junge, vielleicht siebzehn, und glotzt uns an, wie erstarrt, und sagt, Mum, und ich kucke ihn an, unsere Blicke treffen sich, und ich sehe in seinen Augen und hinter ihm im Haus ein komplett anderes Leben als meins, eines, das vielleicht besser ist, ohne so viele scharfe Kanten und zerbrochene Dinge und wir versuchen noch immer, ihr die Uhr von der Hand zu reißen und plötzlich dreht sich Gotti um und fetzt dem Sohn der Frau eine Faust ins Gesicht und der Junge fällt und Gotti knallt die Tür zu und wir sind wieder allein. Und jetzt sehe ich, sie hat einen fetten Diamantring an ihrem Ringfinger, und versuche ihn runterzuziehen, aber er bewegt sich nicht, die Haut schiebt sich zusammen, es tut ihr weh und ich kann ihn nicht runterdrehen, weil sie noch einen Ehering davor hat, der im Weg ist. Also knicke ich ihren Finger zurück, er klappt glatt rüber, bis die Spitze auf dem Handgelenk landet, und es ist komisch, weil ich immer dachte, wenn du wem den Finger brichst, kannst du spüren, wie der Knochen knackt, es sogar hören, aber da ist nichts, es ist wie ein Stück Papier zusammenzufalten, als würde sich der Finger ganz natürlich so weit zurückbiegen lassen, und sie schreit, ich soll den Ring nehmen, doch es geht nicht und ich sehe, die Bruchstelle unten am Fingeransatz schwillt in Sekundenschnelle an, was heißt, dass ich das Ding ganz sicher nicht runterkriege, und die Tür geht wieder auf und da steht ein Mann in einem roten Pullover und wir wissen, jetzt ist alles am Arsch, wir müssen hier weg, aber wir hoffen immer noch, dass wir irgendwas für unsre Mühen mitgehen lassen können, und der Mann fasst seine Frau um den Leib und zieht sie zu sich, zerrt sie in die Tür, und Gotti so, Snoopz, komm, vergiss es, wir verpissen uns, und er dreht sich von der Tür weg, um zum Wagen zurückzurennen, der auf der Straße wartet, und ich in meinem Kopf, ich so, Scheiße, ich hau hier nicht ohne was ab, und der Mann zerrt seine Frau ins Haus und will dabei gleichzeitig die Tür zuschlagen und ich kann in den Flur reinkucken und sehe den dicken, weichen, beigen Teppich, so einen, der die Wärme von jedem Sonnenstrahl aufsaugt, dass du dich einfach nur drauflegen und einschlafen willst, und ich streck irre schnell die Hand vor, erwische die Frau beim Handgelenk und zieh den Arm in dem Moment zu mir, als die Tür zuknallt, der Mann lässt sie voll auf den Arm seiner Frau krachen, und ich höre, wie sie schreit. Gotti rennt den Weg zum Tor runter und ich sehe durch den Türspalt, dass die Frau ihre Handtasche fallen gelassen hat, bücke mich, packe sie wie der Blitz, und schon öffnet sich die Tür wieder ganz und der Mann hat einen Kricketschläger, mit dem er ausholt, aber ich ducke mich weg und er verfehlt meinen Kopf, wobei ich den Luftzug auf meiner Bala spüre, als der Schläger drüber wegzieht. Ich wirble herum und renne mit der Handtasche den Weg runter, durchs Tor, aber unser Fluchtwagen ist nicht da, er fährt die Straße runter, eine der hinteren Türen weit offen und Gotti schreit, ich soll bloß kommen, und der Mann rennt hinter mir her, schwingt den Kricketschläger über dem Kopf und brüllt wie ein Irrer, da kommen keine Worte mehr raus, das ist nur ein Brüllen, und ich renne unserer Karre hinterher, …
