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Anfang Mai 2005 wurde die offizielle Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland zur Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa eingeweiht. Die spektakuläre Anlage, die von dem amerikanischen Architekten Peter Eisenmann entworfen wurde, sorgte im Vorfeld für jahrelange, heftige Diskussionen. 2711 Betonblöcke auf einer Fläche von 19.000 qm in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tores bilden eine große Welle aus Stein, eine begehbare Skulptur.
Autorentext
Joachim Schlör, geboren 1960 in Heilbronn, lebt in Berlin. Von 1993 bis 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, bis November 2001 wiss. Assistent am Lehrstuhl Neuere Geschichte II, Universität Potsdam, derzeit Projektleiter "Kompetenznetz Jüdische und Rabbinische Studien", Universität Potsdam. Jürgen Hohmuth ist Fotograf und u.a. durch den wunderschönene Bildband über Irrgärten und Labyrinthe sowie durch Reiseführer über einige ostdeutsche Städte bekannt geworden.
Klappentext
Anfang Mai 2005 wurde die offizielle Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland zur Erinnerung an die Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa eingeweiht. Die spektakuläre Anlage, die von dem amerikanischen Architekten Peter Eisenmann entworfen wurde, sorgte im Vorfeld für jahrelange, heftige Diskussionen. 2711 Betonblöcke auf einer Fläche von 19.000 qm in unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tores bilden eine große Welle aus Stein, eine begehbare Skulptur.
Leseprobe
Berlin hat, so scheint es, wieder eine Mitte gefunden. Der neue Potsdamer Platz mit seinen vielfältigen Angeboten zieht Besucher ebenso an wie der Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor, Berlins gute Stube. An beiden Orten feiert sich die Stadt, zu Silvester, und immer wieder zur Erinnerung an den Fall der Mauer im November 1989. In beide Richtungen kann man den Blick frei schweifen lassen - bis er, im Zwischenraum, zögert. So nah an den schönen Kulissen ist etwas entstanden, das der neuen Zufriedenheit Berlins mit sich selbst ein Fragezeichen entgegenstellt.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas will stören, verstören. Bevor die Stadt und das Land sich zurücklehnen und so tun, als wäre Normalität wieder hergestellt - überhaupt herstellbar -, steht hier die Frage, in Stein errichtet: Woran denkt die Stadt, wenn sie die Ruinen der Geschichte beseitigt und sich wieder ein schönes Wohnzimmer schafft? Welchen Raum gibt sie der Erinnerung an die nationalsozialistische Diktatur, an den in Berlin geplanten, industriell durchgeführten millionenfachen Mord an den Juden Europas? Diese Frage rührt tief an das Selbstverständnis der gesamten deutschen Gesellschaft und ihrer politischen Repräsentanten. Wo steht dieses Land, sechzig Jahre nach dem Ende von NS-Herrschaft und Weltkrieg? Die Frage wird seit 1945 in Büchern und Zeitungen, in den Schulen und an den Universitäten in öffentlichen Diskussionen und in den Familien immer wieder neu, immer wieder anders gestellt - hier hat sie einen Ort gefunden.
Ein Ort des Gedenkens - wenn auch bei weitem nicht der einzige; allein in Berlin erinnern zahlreiche Mahnmale, Gedenktafeln und Museen an die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der Juden, der Sinti und Roma, der politischen Gegner des NS-Regimes, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen und der vielen anderen Opfer, von der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz und dem Bahnsteig am Bahnhof Grunewald über die Spiegelwand in Steglitz bis zu den Mahnmalen an der Putlitzbrücke, in der Levetzowstraße und in der Großen Hamburger Straße. Dazu kommen die Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager in Deutschland und in den während des Zweiten Weltkriegs vom Deutschen Reich besetzten Ländern.
Ein Ort der Information - und auch darin nicht einzigartig. Nicht weit von dem Gelände am Brandenburger Tor, neben dem Martin-Gropius-Bau (und im Schatten der Mauerreste an der Niederkirchnerstraße) wird seit vielen Jahren die Dokumentation "Topographie des Terrors" auf den Überresten der ehemaligen Zentrale der Gestapo aufgebaut.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas wird in den nächsten Jahren seinen Platz in der Berliner Erinnerungslandschaft finden. Was es von den anderen Orten der Erinnerung und der Information unterscheidet - seine Größe, die künstlerische Gestaltung, die Nähe zu den Zentren der Politik - , war Gegenstand langjähriger Debatten. Warum wird dieses Denkmal nicht an einem historischen, einem "authentischen" Ort der Verfolgung errichtet, sondern auf der Fläche der ehemaligen Ministergärten, sogar in der Nähe der ehemaligen Reichskanzlei und der vergrabenen Bunker der Mächtigen des NS-Regimes? Warum bedeckt es eine so große Fläche, was soll mit dieser Größe ausgedrückt werden? Kann es überhaupt eine angemessene künstlerische Gestaltung, einen überzeugenden künstlerischen Ausdruck für die Erinnerung an die Shoa geben? Wer errichtet dieses Denkmal, und für wen? Wer braucht so ein Mahnmal? Wird das nicht nur ein Ort pflichtbewusst und routiniert absolvierter Gedenkrituale? Über viele Jahre wurden solche Fragen in hitzigen Debatten erörtert, und sie haben sich in diesen Ort mit eingeschrieben, sind zum Bestandteil des Denkmals geworden.
Berlin und die Shoa
Die Zentrale der nationalsozialistischen Diktatur war in Berlin. Am 30. Januar 1933 zogen SA-Trupps durch das Brandenburger Tor, Adolf Hitler war als Reichskanzler eingesetzt worden. Hermann Göring herrschte über den Reichstag, in dem der Sozialdemokrat Otto Wels am 23. März 1933 die letzte große öffentliche Verteidigungsrede der Demokratie hielt: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Politische Gegner wurden gejagt, verhaftet, in Kellern gefoltert und in die bald entstehenden Konzentrationslager verschleppt. Mit dem Boykott von Geschäften, deren Inhaber Juden waren, begann die systematische Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Der Journalist Moritz Goldstein beschrieb diesen Tag: "O ich habe sie gesehen, an jenem 1. April 1933, an dem die deutsche Judenheit in der Form des Boykotts der jüdischen Geschäfte vor der Welt an den Pranger gebunden werden sollte. Ich stand am Nachmittag dieses Tages zur verkehrsreichsten Stunde an der Ecke der Jerusalemer und Leipziger Straße in Berlin, im Auftrage der Vossischen Zeitung, um selber zu sehen - das durfte ich damals noch -, und liess sie an mir vorüber ziehen, die deutschen Bürger aller Stände mit Weib und Kind, ich blickte ihnen ins Gesicht, wie sie sich grinsend aufmerksam machten auf die Inschriften, die zum Beispiel das Warenhaus Tietz sich hatte müssen auf die Scheiben malen lassen, etwa einen Pfeil mit der Aufschrift ,Einbahnstrasse nach Jerusalem' - mehr brachte ihr Witz nicht zustande." Nicht alle machten mit, "welche kamen zu uns", rot vor Scham, schreibt Goldstein, und entschuldigten sich. Aber viele machten doch mit, verbargen sich nicht und schämten sich nicht. Sie brauchten auch keinen Mut: "Es ist gänzlich gefahrlos, für den Staat, gegen seine Juden vorzugehen, und, unterm Schatten des Staates, für die Bürger, von diesen staatlichen Maßnahmen den Nutzen zu ernten." Im Exil bereits, 1938, gibt Goldstein ein Bild von der schleichenden, langsamen, schrittweisen Entrechtung: "Als sie schon nicht mehr wählen, nicht dienen, nicht lernen, nicht schreiben, malen oder musizieren, nicht sich anstellen lassen oder selber anstellen, nicht sich etablieren, nicht mit dieser und nicht mit jener Ware handeln durften, fand sich immer noch ein Rest von Recht, das ihnen genommen werden konnte." Entrechtet und dazu beschimpft - und einsam. Keiner wehrt sich dagegen, dass "immer wieder die paar längst entmachteten, längst gebrochenen, längst an Zahl zusammengeschmolzenen deutschen Juden" angegriffen werden.
Angegriffen, zu Fremden gemacht, aus ihren Berufen gedrängt, zunächst im Beamtenapparat, bald auch aus der gewerblichen Wirtscha…