

Beschreibung
Erzählungen über die Geburt aus der Perspektive der Mütter sind bisher nicht Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gewesen. Diese Leerstelle möchte die vorliegende Studie füllen, indem sie das Erzählen über individuelle Gebärerfahrungen als soziale ...Erzählungen über die Geburt aus der Perspektive der Mütter sind bisher nicht Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gewesen. Diese Leerstelle möchte die vorliegende Studie füllen, indem sie das Erzählen über individuelle Gebärerfahrungen als soziale Praxis erstmals phänomenologisch erschließt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung des Erzählens für den Umgang mit der Grenzerfahrung Geburt. Anhand von Erzählungen aus Internetforen wird gezeigt, wie Frauen ihre eigenen Geschichten wiedergeben und verarbeiten sowie in welcher Form sich in diesen Erzählungen zentrale Werte, Normen und Deutungssysteme unserer Gesellschaft widerspiegeln.
Autorentext
Cecilia Colloseus, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Retraditionalisierung pränatal" im Fach Soziologie an der Universität Tübingen.
Leseprobe
Dank Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Life Sciences, Life Writing. Grenzerfahrungen menschlichen Lebens zwischen biomedizinischer Erklärung und lebensweltlicher Erfahrung an der Johannes Gutenberg-Universität/Universitätsmedizin Mainz. Für diese einzigartige Möglichkeit der transdisziplinären Vernetzung sowie für die Finanzierung in Form eines Stipendiums bin ich der DFG zu großem Dank verpflichtet. Dass die Studie als Buch erscheinen kann, verdanke ich ebenfalls der freundlichen Unterstützung der DFG. Gefördert wurde die Publikation außerdem von der Deutschen Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung, der ich ebenso danke. Dem Herausgeber der Reihe Kultur der Medizin, Andreas Frewer, und Eva Janetzko vom Campus Verlag danke ich für ihre kompetente Beratung und Begleitung. Mein besonders herzlicher Dank gilt Michael Simon. Als mein Doktorvater betreute er meinen Promotionsprozess nicht nur umfassend, sondern bewies auch alle sprichwörtlichen geburtshilflichen Qualitäten, ohne die diese Studie wohl sehr viel schwerer zur Welt gekommen wäre. Außerdem bedanke ich mich bei meinen Mitkollegiatinnen im GRK 2015/1, insbesondere bei Miriam Halstein Julia Reichenpfader und Anita Wohlmann, mit denen ich in einem kontinuierlichen und intensiven fachlichen Austausch stand und stehe. Ein großer Dank gebührt auch Claudia Buir, die als Koordinatorin des GRK nicht nur für einen reibungslosen Ablauf sorgte, sondern uns Kollegiatinnen auch in jeder Hinsicht unterstützte. Den Mitarbeiterinnen des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Andrea Brösing, Christine Forcina, Dagmar Loch und Susanne Michl, danke ich für ihre große Hilfsbereitschaft. Auch bedanke ich mich bei Elisabeth Bodenstein vom Prüfungsamt des Fachbereichs 05. Für inspirierende (Fach-)Gespräche, Unterstützung und Beratung in allen Belangen danke ich Natalie Aharon, Bianca Blum, Diana, Marius und Ronja Colloseus, Barbara Coridaß-Ott, Verena Delto, Timo Heimerdinger, Joachim Hopp, Matthias Samuel Laubscher, Christine Loytved, Rudolf Mensing, Stephan Nicolae, Elisabeth, Thomas und Wilhelm Ott, Wiebke Partzsch, Johanna und Hans Pechatscheck, Lisa von Reiche, Lukas Ricken, Lotte Rose, Jonathan Roth, Stefanie Schmid-Altringer, Sarah Scholl-Schneider, Rhea Seehaus, Andrea Sell, Christine Skala, Hedwig Suwelack, Mirko Uhlig, Sophie Wasserscheid, Sascha Weber, Eberhard Wolff und dem Doktorandinnen-Kolloquium der Kulturanthropologie/Volkskunde an der Universität Mainz. Nicht zuletzt bedanke ich mich auch bei allen Nutzerinnen des Internetforums Mama-Community, deren Texte im Rahmen dieser Studie verwendet werden sowie bei den Teilnehmenden der Aktion Erzählcafés - Der Start ins Leben und den Hebammen und Ärztinnen, die mir einen Einblick in ihre Tätigkeit ermöglichten und für ein Interview zur Verfügung standen. Ihre Erzählungen haben die vorliegende Untersuchung überhaupt erst möglich gemacht. Diese Studie wäre nicht zustande kommen, hätten mich nicht zahlreiche Menschen in meinem persönlichen Umfeld unermüdlich unterstützt, ermutigt und getragen, allen voran meine Eltern Maria und Hans Günter Colloseus sowie meine Patentante Christa Westenberger. Ich verdanke ihnen so viel, und es ist das Mindeste, ihnen dieses Buch zu widmen. Zu guter Letzt danke ich meinem Mann Matthias Colloseus. Durch sein Interesse an meiner Forschung von Anfang an bis hin zum sorgfältigen Lektorat habe ich von ihm die beste und umfassendste Unterstützung erfahren, die ich mir vorstellen kann. Ich danke ihm für seinen wachen Verstand und seine grenzenlose Geduld. Cecilia Colloseus Freiburg, im August 2017 1. Einleitung: Gebären aus narrativer Perspektive Der Vorhang läßt nur mattes Licht herein, Sie windet sich auf tränennassen Kissen, Sie hat die Zähne in den Daumen fest gebissen, Daß blau er schwillt. Sie hält es nicht... muß schrein, Es rast heraus, es bricht sich an den Wänden Der graue Ton und klopft mit fürchterlichen Händen Da schlägt hoch über aller Wipfel Glut die Flamme Ein rosig, klumpig Etwas trägt die Amme. Der Sanitätsrat hat den Ärmel aufgekrempelt, Indem er diesen roten Fleck zu einem Knaben stempelt. Dem Vater perlt der kalte Schweiß. Die Mutter aber lächelt, und sie weiß, Es singt mit Harfen und mit Flöten ihren Ohren: Ich habe einen Gott geboren! (Klabund 1913: 57) 1.1 Gebären - ein Tabu? Jeder Mensch wird geboren. Zu dieser Tatsache steht das Interesse an den Gegebenheiten, die die Umstände des Gebärens bestimmen, in einem bemerkenswerten Missverhältnis. Dabei ist die Geburt eine der wichtigsten Metaphern für den Anfang und das Hervorbringen von Neuem. "Oft hat man sich die Entstehung der großen Werke im Bild der Geburt gedacht", schreibt Walter Benjamin (1989 Zwischen Sokrates' Maieutik (Platon nach Becker 2007) und Hannah Arendts Natalität, dem "Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt" (Arendt 2010 dient das gesamte semantische Feld als figurative Umschreibung für das schöpferische Tun und als Topos in Erzählungen. Diese Beobachtung gilt nicht nur für westliche Vorstellungswelten. Viele Kulturen kennen Metaphern des "Schwangergehens", des "Geburtsschmerzes" und der "Nachwehen" und messen ihnen in ihren großen Erzählungen, beispielsweise in Schöpfungsmythen, außerordentliche Bedeutung bei (vgl. Dierichs 2002). Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik identifiziert für das Hebräische gar eine gemeinsame Wurzel für die Wörter "Geschichten" und "Gebären" (Brumlik 2008). Doch so prominent das Hervorbringen neuen Lebens in mythischen, philosophischen und literarischen Kontexten verhandelt wird, so wenig präsent ist der konkrete körperliche Prozess des Gebärens aus der Perspektive der Frauen in der Literatur oder der Alltagserzählung. Das eben noch Idealisierte, narrativ Überformte und poetisch Umschriebene wird banalisiert oder sogar ausgeblendet, wenn es um die tatsächliche Geburt geht; der körperliche Akt des Gebärens erzeugt Hemmungen, sogar Sprachlosigkeit, bleibt eine Leerstelle. Im biomedizinisch dominierten Geburtssystem der Gesellschaften des globalen Nordens ist der Blick auf die Geburt ambivalent: Einerseits wird sie als medizinisch-technisch kontrollierbares Ereignis betrachtet, das den Ansprüchen von Planbarkeit und Risikomanagement entsprechen soll, andererseits folgt auch die moderne Geburtsmedizin dem überkommenen idealisierenden Narrativ der Geburt als Hervorbringen neuen Lebens, wobei das Geborene im Mittelpunkt steht, nicht die Gebärende. Berichte über die leiblichen Erfahrungen der Gebärenden bleiben auch hier in jeder Hinsicht außen vor und sind nicht diskursrelevant. Das Erzählen über das individuelle, leibkörperliche Erleben einer Geburt wirkt in einer Gesellschaft Mitteleuropas, die (nur scheinbar) offen mit Körperlichkeit umgeht, wie ein geradezu anachronistisches Tabu: "Wir wollen heute offen sein. Wir sprechen über Orgasmusschwierigkeiten, fragen unsere Freundin, wie schmerzhaft das Tattoostechen war oder das Bikini-Waxing. Wenn eine Doku über Hirn-OPs läuft, schauen wir fasziniert zu. Wir leben im 21. Jahrhund…
