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Globale Gerechtigkeit ist in der heutigen Philosophie ein zentrales Thema. Allerdings werden in der bisherigen Diskussion nicht westliche Ansätze kaum berücksichtigt. Anke Graneß zeigt am Beispiel des kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka, wie wichtig eine interkulturelle Öffnung des Diskurses ist. Für Odera Oruka steht die Sicherung eines menschlichen Minimums an erster Stelle - vor jeglichen Freiheitsrechten, dem Recht auf Eigentum oder der nationalen Souveränität. Er vertritt damit eine Theorie, die gerade in den "philosophischen Randgebieten", also in Afrika, Lateinamerika und den arabischen Ländern, angesichts der dortigen Armut von großer Bedeutung ist. Die Autorin öffnet in diesem Buch den Gerechtigkeitsdiskurs für eine Perspektive, die der Sicherung körperlicher Bedürfnisse Priorität einräumt und damit zentrale Fragen der Debatte neu stellt.
"Ein fundiert recherchiertes und klar strukturiertes Werk, das aufgrund seiner Problematik sowie der Tatsache, dass es einer philosophischen Stimme aus der kapitalistischen Peripherie Gehör verschafft, sehr zu empfehlen ist.", Widerspruch. Münchener Zeitschrift für Philosophie, 01.06.2011
Autorentext
Anke Graneß ist Chefredakteurin der Zeitschrift Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren und lehrt an der Universität Wien.
Leseprobe
Armut ist ein existentielles Phänomen, das uns auf den Straßen Wiens und Berlins ebenso begegnet wie in Lagos, Kairo, Mexiko-City, Rio de Janeiro oder New York. Es ist, so scheint es, ein weltumspannendes Phänomen, ja man möchte fast sagen ein allgemein menschliches, das in seiner schärfsten Form in den Entwicklungsländern zu finden ist. Aber auch in den reichen Industrienationen ist es präsent. Nicht umsonst hat die Europäische Union das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ernannt. Die Europäische Union ist eine der reichsten Gegenden der Welt. Nichtsdestotrotz haben 17 Prozent der Europäer nicht genügend Mittel, um sich ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Insofern sprechen internationale Organisationen zu Recht von einem Weltarmuts- und Welthungerproblem. Laut FAO litten im Jahr 2009 über eine Milliarde Menschen an Unterernährung und Hunger. Dabei ist Armut kein rein wirtschaftliches Problem, mit dem sich ausschließlich Ökonomen und Soziologen beschäftigen müssen. Armut geht für die betroffenen Individuen an die Existenz: im extremsten Fall führt sie an die Grenze zwischen Sein und Nichtsein - immer jedoch deutet sie auf die Frage nach der Bestimmung dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses existentielle Phänomen in der Philosophie bisher kaum behandelt wird oder zumindest ein Randdasein fristet. Armut ist dabei nicht nur ein individuelles, existenzielles Problem für den Betroffenen. Es handelt sich vielmehr um ein gesellschaftliches Problem, denn Armut stellt die Möglichkeit des Zusammenhalts menschlicher Gemeinschaften auf die Probe. Armut führt zur Frage nach den Voraussetzungen menschlicher Gemeinschaft und nach den Bedingungen der Möglichkeit moralischen Handelns. Darf der Verhungernde stehlen (oder gegen andere moralische Regeln der Gemeinschaft verstoßen), um sein Leben zu retten? Ist der Verhungernde überhaupt noch Mitglied einer ethischen Gemeinschaft und für sein Handeln verantwortlich? Ist der Verhungernde, der mit dem schieren Überleben kämpft, überhaupt noch ein moralisch Handelnder? Armut zielt mit diesen Fragen offensichtlich in das Herz philosophisch-ethischer Problemstellungen: Was ist die Voraussetzung ethischen Handelns? Was soll ich tun? Was ist der Mensch? Erfreulicherweise sind auf dem Gebiet der Armutsforschung auch in philosophischer Hinsicht in den letzten Jahren wichtige Beiträge geleistet worden, zum Beispiel von Amartya Sen und Martha Nussbaum, Thomas Pogge oder Enrique Dussel. Allerdings hat ein afrikanischer Philosoph die Bedeutung philosophi-scher Reflexion auf das Armutsproblem bereits 1981 zu einem Hauptthema seiner Arbeiten gemacht: Henry Odera Oruka. Als Philosoph aus Kenia, und damit in einer in jeder Hinsicht marginalisierten Position (als Philosoph - Philosophie gilt vielen ja als "Orchideenfach" - und als Afrikaner), sind seine Arbeiten zu dieser Thematik bis heute weitgehend unreflektiert geblieben - und zwar ganz zu unrecht, wie dieses Buch zeigen wird. Odera Oruka (1944-1995), der im deutschsprachigen Raum noch so gut wie unbekannt ist, ist bis heute einer der einflussreichsten und am meisten rezipierten Philosophen Afrikas. Seine philosophischen Arbeiten stechen durch zwei Merkmale besonders hervor: Sie sind zum einen geprägt durch eine erfrischende Radikalität und zum anderen durch eine besondere Nähe zur Lebensrealität der Menschen. Fragen, die ihn zu philosophischer Auseinandersetzung angespornt haben, waren stets diejenigen, die aufs engste mit praktischen Fragen seiner Landsleute und deren Lebensbedingungen verknüpft waren: Fragen nach Freiheit und Unabhängigkeit in einer postkolonialen Welt, nach Werten und Leitlinien in eben dieser Welt, Fragen nach Demokratie und Menschenrechten in den afrikanischen Ländern, Fragen nach der moralischen Legitimität von Entwicklungshilfe, Fragen nach dem Schutz der Umwelt und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Immer wieder mündete seine Beschäftigung mit diesen Problemen auch in die Frage nach der Relevanz der Philosophie für unsere heutige Welt. Für ihn kann Philosophie ihre Relevanz und Legitimität nur aus der Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart beziehen, zu deren Beantwortung sie ihren Beitrag leisten muss. Bekannt wurde Odera Oruka vor allem durch sein Projekt der Weisheitsphilosophie (sage philosophy). Weisheitsphilosophie versteht sich als ein Gegenentwurf zur sogenannten Ethnophilosophie, einem Trend in der modernen Philosophie Afrikas, der afrikanische Philosophie vorrangig als im kommunalen Denken verankert auffasst und deshalb auch Begriffe wie Bantu-Philosophie geprägt hat. Die Ethnophilosophie entstand im Bemühen afrikanischer Intellektueller nach den Jahrhunderten der Kolonisation und der damit verbundenen Abwertung eigener Traditionen, eine originäre afrikanische Philosophie zu rekonstruieren. Odera Oruka hält diesen Ansatz für falsch - wenn auch die Zielrichtung (die Rekonstruktion indigenen Erbes) für richtig. Als Ursachen für viele Probleme der Gegenwart in Afrika werden das Abbrechen von kulturellen Traditionen, von Wertvorstellungen, Weltanschauungen und von Bildungstraditionen durch den Kolonialismus angesehen, sowie die Versuche, ausländische Institutionen (zum Beispiel im politischen oder ökonomischen Bereich, oder auch Bildungssysteme, Verwaltungs- und Regierungssysteme) in den Ländern Afrikas zu implementieren. Eine Rekonstruktion indigenen Wissens wird als Möglichkeit betrachtet, heutigen Generationen in Afrika Orientierungshilfen in einer komplexer werdenden Welt zu geben. Aber im Gegensatz zu den Vertretern der Ethnophilosophie versteht Odera Oruka Philosophie als eine kritisch-reflexive Denkbewegung, die gekennzeichnet ist durch logische Konsistenz. Zudem betont er, dass Philosophie immer eine Denkleistung von Individuen ist. Er lehnt es explizit ab, Denktraditionen eines ganzen Volkes als Philosophie zu bezeichnen. Aus diesem Grund hat Odera Oruka Interviews mit Männer und Frauen aus Kenias Dorfgemeinschaften, die innerhalb ihrer Gemeinschaften als weise (sages) gelten, geführt und aufgezeichnet und dann auf ihre philosophische Relevanz hin untersucht. Im Gegensatz zu den Vertretern der Ethnophilosophie veröffentlichte Odera Oruka diese Interviews unter namentlicher Nennung der jeweiligen Interviewpartner und -partnerinnen und machte es somit möglich, Auffassungen und Ideen individuellen Denkern zuzuordnen und nicht als Auffassungen einer ganzen Dorfgemeinschaft oder gar eines ganzen Volkes auszugeben. Damit wird eine klare Abgrenzung individuellen Denkens zu Mythen, z…