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Geschichte und Geschlechter
Sexuelle Gewalt, so wie sie heute verstanden wird, hat es keineswegs schon immer gegeben; sie ist vielmehr ein historisches und damit ein wandelbares Phänomen. Wie sexuelle Gewalt zu dem wurde, was sie heute in der Regel ist - nämlich ultimative Grenzüberschreitung -, erklärt dieses Buch am Beispiel des ausgehenden Zarenreichs. Anhand von Gerichtsakten, Romanen, forensischen Gutachten und Artikeln aus der Boulevardpresse entwirft die Autorin ein lebendiges Panorama der städtischen Gesellschaft Russlands um 1900. Das mikrogeschichtlich orientierte Buch analysiert moderne Entwicklungen der Wahrnehmung sexueller Gewalt, etwa die Entstehung des "pädophilen Typus", aber auch russische Besonderheiten, zum Beispiel die "Epidemie " sexueller Gewalt, die das Zarenreich um 1905 in Atem hielt.
Autorentext
Alexandra Oberländer, Dr. phil., ist assoziierte Wissenschaftlerin an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen und lehrt an der HU Berlin.
Leseprobe
Einleitung Das Wort "Frau" war mit glühenden Buchstaben in Pawels Gehirn eingebrannt; er sah es als erstes auf jeder neu aufgeschlagenen Seite; er hörte, wenn sich Leute leise unterhielten, wie sie das Wort "Frau" hinauszuschreien schienen - und es ward für ihn das unbegreiflichste, phantastischste und schrecklichste aller Wörter. Leonid Andreev, Im Nebel (1902) Marija Surovceva starb am 07. Oktober 1909, gegen sieben Uhr abends. Aus den Putilov-Werken am südwestlichen Stadtrand Sankt Petersburgs strömten die Arbeiter in die umliegenden Kneipen oder direkt nach Hause. Die Prostituierte Marija Surovceva und der Bauer Denisov hatten sich in einer Wohnung ganz in der Nähe der Werke zum Zechen getroffen. Denisov begann Surovceva zu belästigen, doch sie wollte sich auf seine Annäherungsversuche nicht einlassen. Zunächst konnte sie sich noch wehren, doch schließlich packte er sie, drehte ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie, dann griff er sich den Stiel eines Schrubbers und ungeachtet der verzweifelten Schreie Surovcevas, führte er ihr den Stiel immer wieder in ihre Geschlechtsorgane ein. Nicht das Stöhnen der Armen und auch ihr Flehen halfen nichts. Surovceva erlag ihren Verletzungen noch am Tatort; Denisov wurde verhaftet. Mehr erfahren wir aus dieser Meldung in der einschlägigen lokalen Boulevardzeitung Gazeta-kopejka vom 08. Oktober 1909 nicht. Wir wissen nicht, wer die Polizei verständigte. War es Denisov selbst? Gab es NachbarInnen, die Surovceva flehen, schreien und stöhnen hörten? Waren es womöglich diese NachbarInnen, die nicht selbst einschritten, sondern die Polizei riefen? Und wer war Denisov? Wir wissen lediglich, dass er "Bauer" gewesen war, ein Standesbegriff im ausgehenden Zarenreich, der nichts über Beruf, Herkunft oder Bildung aussagte. Und wer war Marija Surovceva? Welches Leben hatte sie gelebt? Arbeitete sie wirklich als Prostituierte? Oder legte vielmehr das Verbrechen, dessen Opfer sie geworden war, nahe, dass sie Prostituierte gewesen war? Würde man(n) eine keusche und moralisch integre Frau derart quälen? Wollte Denisov Surovceva bestrafen und wenn ja, wofür? Dafür, dass sie eine Prostituierte war, oder dafür, dass sie eine Frau war? War womöglich "Frau" auch für Denisov das schrecklichste aller Wörter? Wir wissen es nicht. Die Gazeta-kopejka ließ der ersten, relativ kurzen Meldung keine ausführlichere folgen. Was wir jedoch wissen, ist, dass die russischen Zeitungen am Beginn des 20. Jahrhunderts Sex & Crime-Geschichten im Überfluss zu bieten hatten. Die Zeitungsseiten seien "blutgetränkt", bemerkte der Kolumnist der Gazeta-kopejka Skitalec im Jahre 1913: Selbstmorde, Eifersuchtsdramen, Rowdytum (chuliganstvo), Raubüberfälle, Terrorismus und nicht zuletzt sexuelle Gewalt. Es verging keine Woche, in der die Zeitungen nicht von Vergewaltigungen oder sexuellem Missbrauch an Kindern berichtet hätten. Sexuelle Gewalt schien so sehr zu einem Phänomen des Alltags, so omnipräsent geworden zu sein, dass der liberale Arzt Dmitrij bankov im Sommer 1908 anfing, Fälle sexueller Gewalt zu zählen. Von Juni 1908 bis März 1909 kam bankov russlandweit auf 369 sexuelle Gewalttaten. Durchschnittlich ein Vorfall sexueller Gewalt pro Tag im riesigen Russländischen Imperium veranlasste bankov, von "traumatischen Epidemien" und von "sexuellen Bacchanalien" zu sprechen. Folgt man der Interpretation bankovs, hatte seit der Revolution von 1905 eine "Epidemie sexueller Entfesselung" Russland fest im Griff. Doch nicht nur das Ausmaß sexueller Gewalt erschütterte die ZeitgenossInnen. Auch wer vergewaltigt wurde, sorgte für Empörung. "Frauen werden vergewaltigt, Kinder, siebzigjährige Greisinnen und achtmonatige Babys". Der "Rekord" soll laut der Gazeta-kopejka die Vergewaltigung einer 103-Jährigen durch ihren Enkel gewesen sein. Nicht also nur die neu erreichte Quantität, sondern auch - wenn man so will - die Qualität sexueller Gewalt gab Anlass zur Sorge. Weibliche Personen, egal welchen Alters, waren vor sexueller Gewalt nicht mehr sicher. Ausgerechnet die Städte - allen voran Sankt Petersburg und Moskau -, die Orte also, die für Aufbruch und Fortschritt, Moderne und Zivilisation standen, schienen besonders gefährliche Orte für Frauen und Mädchen zu sein. Egal ob in Parks, Hotels, Restaurants, auf offener Straße, in Kutschen, auf dem Spielplatz, dem Hof oder zu Hause: Sexuelle Gewalt lauerte überall. Während Gewaltverbrechen wie Morde eifersüchtiger Frauen oder aber Selbstmorde durchaus auch schon vor der Jahrhundertwende regelmäßig in den Zeitungen aufgetaucht waren, war sexuelle Gewalt als Medienphänomen in dieser Breite und Häufung ungewöhnlich und neu. Noch 20 Jahre vorher, in den 1890er Jahren, war sexuelle Gewalt den Zeitungen so gut wie nie eine Meldung wert gewesen. Welche Gründe es gewesen sein mögen, die sexuelle Gewalt zu einem Gegenstand des öffentlichen Interesses haben werden lassen, ist Gegenstand dieses Buches. Mich interessiert die Wahrnehmung sexueller Gewalt. Was überhaupt galt als sexuelle Gewalt? Wer interessierte sich für sexuelle Gewalt und warum? Was interessierte an sexueller Gewalt? Wie erklärte man sich sexuelle Gewalt? Welche Vorstellungen existierten über Opfer und Täter? Welche Entwicklungen in den sich überschlagenden Zeiten des Fin de Siècle beeinflussten die Wahrnehmung sexueller Gewalt? Und welche Auswirkungen hatte dies wiederum auf die Wahrnehmung von Opfer und Täter? Die Wahrnehmung sexueller Gewalt, so meine These, änderte sich in den Jahren zwischen 1880 und 1910 grundlegend. Das eingangs geschilderte Beispiel Surovcevas und vor allem die Tatsache, dass ihr Fall mehr Fragen eröffnete als Antworten lieferte, mag bereits ein erster Hinweis darauf sein, dass es bei sexueller Gewalt, wie die Medien sie präsentierten, in den seltensten Fällen um die eigentliche Tat ging. Vielmehr standen die Taten für etwas anderes, für den Zeitgeist des Fin de Siècle etwa, für die Verrohung der Sitten, für die drohende Apokalypse oder für die Degeneration der russischen Gesellschaft. Die Omnipräsenz sexueller Gewalt seit 1907 war mitnichten ein Zeichen für die Aufbruchsstimmung des russischen Imperiums, das seit den Großen Reformen der 1860er Jahre sowie dem Industrialisierungs- und Urbanisierungsschub der 1890er Jahre eine beachtliche Entwicklung hinter sich hatte. Russland befand sich spätestens seit 1904 in einer Krise; oder wie es Mark Steinberg unlängst formulierte: Russland erlebte eine Neuauflage der "times of troubles". Dass ausgerechnet sexuelle Gewalt dazu diente, den desolaten Zustand Russlands zu illustrieren, halte ich für keinen Zufall. Dies gilt es in diesem Buch zu erklären. Die Zeitungen waren seit 1907 voll mit Geschichten über sexuelle Gewalt. Doch gab es deutliche Unterschiede im Hinblick darauf, welche Fälle in den Augen der Publizisten viel und welche Fälle weniger Aufmerk…