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Man kann ja nicht einfach sterben, wenn die Dinge noch ungeklärt sind. Das denkt Katharina, seit sie vor kurzem das Etwas in ihrer Brust entdeckt hat. Niemand weiß davon, und das ist auch gut so. Denn an diesem Wochenende soll ein letztes Mal alles ganz normal sein. Und so entrollt sich das Chaos eines ganz normalen Freitags vor ihr. Während sie aber einen abgetrennten Daumen versorgt, ihren brennenden Trockner löscht und sich auf den emotional nicht unbedenklichen Besuch eines Studienfreundes vorbereitet, beginnt ihr Vorsatz zu bröckeln, und sie stellt sich große Fragen: Ist alles so geworden, wie sie wollte? Ihre Musik, ihre Kinder, die Ehe mit dem in letzter Zeit viel zu abwesenden Costas? Als der Tag fast zu Ende ist, beschließt sie, endlich ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen, den sie liebt.- Die Heldin in Mareike Krügels rasantem, klugen Roman gehört ganz sicher zu den einnehmendsten Frauengestalten in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Mareike Krügel, geboren 1977 in Kiel, lebt mit ihrem Mann Jan Christophersen und den zwei gemeinsamen Kindern in Schleswig Holstein. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Friedrich-Hebbel-Preis. Ihr Werk ist eines der facettenreichsten in der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Bislang legte sie drei Romane vor, 'Die Witwe, der Lehrer, das Meer', 'Die Tochter meines Vaters' und 'Bleib wo du bist'.
Vorwort
Es ist unmöglich, ein Leben zu erzählen, ohne den Tod die ganze Zeit dabei im Auge zu behalten.Nichts ist so geworden, wie ich es wollte, gar nichts, und nun stehe ich da und muss mir selber zuhören, wie ich zu mir sage: War das nicht klar?Ich habe immer gedacht, dass es praktisch wäre, wenn jeder seine eigene Todesursache kennen würde. Es wäre ein unschlagbares Mittel in der Therapie von Angstpatienten. Ich weiß, wie mein eigenes Ende aussehen wird, und es hat nichts mit einem Autounfall zu tun. Seit zwei Wochen weiß ich es. Da habe ich das Etwas entdeckt. Seitdem ist die Sache klar.Ab Montag darf alles anders werden. Montage sind Schwellentage. Jetzt ist Freitag, und die Aufgabe von Freitagen ist es, die Woche sanft ausklingen zu lassen. Man muss sie freihalten von Unbill. Man muss die Gedanken stoppen, bevor sie wie Flöhe zu hüpfen anfangen.In meinem Alter fangen Menschen noch einmal ganz von vorne an, lerne neue Berufe, trennen sich von ihren Partnern. Sehe ich aus wie jemand, dessen Chancen aufgebraucht sind?Während ich bei meiner Mutter am Krankenhausbett saß, kam ein Arzt zur Visite. Im Hinausgehen und ohne mich dabei direkt anzusehen, sagt er: Manchmal liegt so etwas in der Familie. Geben Sie auf sich acht, junge Frau.Der erste Tag vom Ende des Lebens - emotional, klug, zum Heulen komisch
Autorentext
Mareike Krügel, geboren 1977 in Kiel, lebt mit ihrem Mann Jan Christophersen und den zwei gemeinsamen Kindern in Schleswig Holstein. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Friedrich-Hebbel-Preis. Ihr Werk ist eines der facettenreichsten in der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Bislang legte sie drei Romane vor, "Die Witwe, der Lehrer, das Meer", "Die Tochter meines Vaters" und "Bleib wo du bist".
Leseprobe
Die Straßenlaternen beleuchten die überfrorenen Büsche rechts und links der Straße. Es ist eisig, ich kann nicht so zügig fahren, wie ich gern möchte. Im Labyrinth des Neubaugebietes, in dem Cindis Elternhaus steht, fällt mir plötzlich wieder Costas' SMS ein, und ich fahre rechts ran, um sie zu lesen. Er schreibt: Leerlauf. Zu müde zum Arbeiten, zu hungrig, um aufs Büfett zu warten. Mit dem Zug wärst Du in drei Stunden hier - überleg es Dir. Heinz kann doch nach den Kindern gucken. Ich sterbe vor Langeweile ohne Dich heute Abend. C
Ich fühle mich matt und gleichzeitig furchtbar gehetzt. Was soll ich ihm antworten? Offenbar hat er vergessen, dass ich heute Besuch bekomme. Ich tippe: Mit dem Zug wärst DU in drei Stunden hier. Deine Kollegin kann doch nach dem Büfett gucken. K
Tief drinnen bin ich gerührt, dass er das Du in seinen SMS mit einem großen D schreibt. Ich fühle mich dadurch ernst genommen, und es evoziert zärtliche Gefühle in mir. Mein Costas, der sich in Kleinigkeiten genauso viel Mühe gibt wie im Großen. Ich stelle die CD an und fahre weiter, um Helli ihre Tasche zu bringen.
Kilian steht jetzt am Bahnhof. Joseph Protschka singt »Die alten bösen Lieder«, und ich merke zu spät, dass ich die Augen geschlossen habe, und fahre mit dem rechten Reifen über den Kantstein. Es ist das letzte Lied des Zyklus, und der Text hat eine Art, traurig zu sein, die mich nicht zum Heulen bringt, das schätze ich sehr. Das Klaviernachspiel ist anders, es kriecht mir direkt in die Seele und verbreitet dort eine eisige Kälte. Heine wusste genau, was er tat, und Schumann wusste es auch. Ich lausche dem Gesang und stelle die CD ab, bevor das hinterhältige Klavier mit seinem Alleingang anfängt und die trotzige Entschlossenheit des Sängers, seinen Schmerz zu bewältigen, mit Hoffnungslosigkeit kommentiert, indem es das Motiv des zwölften Liedes anklingen lässt. Vielleicht sollte auf meinem Grabstein kein Spruch stehen, der auf mich gemünzt ist, sondern einer an Costas adressiert: Sei unsrer Schwester nicht böse, du trauriger, blasser Mann.
Vor Cindis Haus steht eine einzelne Laterne und flackert unregelmäßig. Ich stelle das Auto direkt darunter ab und gehe mit Hellis Tasche in der Hand in diesem Geflacker zur Tür. Auf mein Klingeln reagiert zunächst niemand, aber beim zweiten Versuch öffnet sich die Tür. Vor mir steht ein mir völlig unbekannter junger Mann, dessen Gesichtsausdruck meine Überraschung spiegelt.
»Nanu«, sagt er. »Wen haben wir denn hier?«
Ich kann hören, dass er nicht mehr nüchtern ist. Er hält sich am Türrahmen fest und schaut mich auf eine Weise ernst und geradeaus an, die zeigt, dass er sich alle Mühe gibt, keinesfalls unfokussiert zu wirken. Gedämpft wummern die Bässe der Musik, die hinter ihm im Haus voll aufgedreht ist.
»Hier haben wir Hellis Mutter«, sage ich. »Mit der Zahnbürste.« Ich hebe die Tasche etwas an, damit er sie sehen kann, ohne seinen Blick allzu sehr senken zu müssen. Hinter ihm taucht Helli auf, schiebt ihn zur Seite auf eine beinahe mütterliche Art, nicht zu grob, aber bestimmt und fest genug, dass er Würde und Gleichgewicht bewahren kann. Sie ist atemlos und hat rote Wangen. Bevor sie die Tür hinter sich bis auf einen kleinen Spalt zuzieht, erhasche ich noch einen Blick auf den Raum jenseits der Garderobe. Er scheint gut bevölkert zu sein. Helli erfasst sofort, was ich denke. Immer wieder macht mich ihre Fähigkeit, mich wie ein offenes Buch zu lesen, sprachlos. Müsste jemand, der etwas hat, das das Wort Aufmerksamkeitsdefizit im Namen trägt, nicht eher Schwierigkeiten haben, die Gefühle anderer Leute zu erraten? Aber Mütter sind keine normalen Leute, nichts, was für andere gilt, muss auch für sie gelten. Womöglich sind alle Mütter offene Bücher für ihre Kinder, aber die meisten Kinder sind einfach zu höflich, es sie spüren zu lassen. Kannte ich meine eigene Mutter in