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Elisabeth und Friedrich Nietzsche. Ihr frühes Bündnis gegen die Zumutungen des Daseins schien unkündbar zu sein. Sie gab sich keine Mühe, einen Mann zu finden. Er gab sich keine Mühe, eine Frau zu finden. Bis doch eine zwischen sie trat, Elisabeth ihren Bruder verstieß und Friedrich Nietzsche die eigene Schwester zu seiner Fernsten erklärte. Zur Strafe heiratet sie: einen Antisemiten. Schlimmster Affront gegen den Anti-Antisemiten Nietzsche. 'Du entkommst mir nicht!', weiß Elisabeth, nachdem ihr Bruder in Turin verhaltensauffällig wird: Er hatte ein geprügeltes Droschkenpferd umarmt. Aber sein Ruhm wächst. Friedrich Nietzsche gilt noch immer als der beliebteste, meistgelesene und meistzitierte Philosoph weltweit. Dass erhalten ist, was er schrieb, ist nicht zuletzt ihr Verdienst. Drei Mal wird sie für den Nobel-Preis vorgeschlagen, gar zur 'ersten Frau Europas' erklärt. Friedrich Nietzsche hat seiner kleinen Schwester vieles zugetraut, aber auf den Gedanken, dass sie einmal seine Wirkungsgeschichte mitbestimmen würde, wäre er nie gekommen. In aller Beiläufigkeit widerlegt sie sein Frauenbild.
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, promovierte Philosophin, ist Autorin des 'Tagesspiegel'. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter 'Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich' und 'Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe'. Im Berlin Verlag erschienen 2015 'Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow' und 2016 'Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche'. Kerstin Decker lebt in Berlin.
Autorentext
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin und Autorin des »Tagesspiegel«. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter die hochgelobten Biografien über Lou Andreas-Salomé, Frieda von Bülow, Elisabeth Förster-Nietzsche und Franziska zu Reventlow.
Leseprobe
Allein in Tautenburg
(Elisabeth)
Es ist unmöglich, aber wahr: Ihr Bruder liebt eine andere. Bis eben war sie die einzige Frau in seinem Leben, und nun? Sie hätte das nie geglaubt, er ist nie von einem weiblichen Wesen nur halb so begeistert gewesen4, doch es ist geschehen.
Das ist Verrat.
Wann gab es ein Band zwischen Bruder und Schwester, so eng, so unauflöslich wie das ihre? Der unbedingte Beistandspakt zwischen ihnen, nie unterzeichnet und doch gültig von Ewigkeit zu Ewigkeit, er hat ihn gebrochen. Wegen einer Frau. Aber was heißt Frau? Wegen dieses Kuriosums von einem Weibe: Dieselbe Größe wie ihre Mutter, dieselbe unmöglich dünne Taille, derselbe hochgewölbte Busen (so daß man beim Anblick dieses Oberkörpers immer im Zweifel war, ob der obere oder der untere Theil der unnatürlichste sei) ... Und das ist erst der Anfang von Elisabeths Lou-Porträt5.
Dass Fritz einmal so werden konnte, wie er in diesem Sommer war, so - wie soll sie das nur sagen? - eben so wie seine Bücher. Ja, das ist wohl der erschütterndste Befund dieses August 1882, und sie sieht sich außerstande, es noch länger vor sich zu verbergen: Fritz ist anders geworden er i s t so wie seine Bücher.6 Für alle, die in diesem Satz etwas vermissen, sei es gleich gesagt: Elisabeth Nietzsche setzt Kommas nur äußerst sparsam, eher gar nicht. Satzzeichen, weiß sie, sind Prothesen für Minderbegabte, die sich allein mit ihrer natürlichen Intelligenz in einem Text nicht zurechtfinden.
Die Schwester des Philosophen harrt weltverloren allein in einem thüringischen Kleinstort aus, und zwar so: Ich bin halbe Tagelang einsam in den dichtesten Wäldern herumgeirrt7. Es ist Ende August, fast alle Badegäste sind schon weg, auch ihr Bruder und das Mädchen, dem seine Teilnahme gilt. Drei Wochen lang war sie das dritte Rad am Wagen gewesen, aber nein, das ist ungenau: Dieser Wagen hatte von Anfang an nur zwei Räder, das Friedrich- und das Lou-Rad, sie waren Gleichrollende, 21 Tage lang.
Im anderen bei sich selber sein. Ein Meisterdenker, den ihr Bruder gern verspottet, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hat so einmal die Liebe definiert, so schön und trotzdem wahr. Für sie, Elisabeth, blieb bei dieser Seinsweise kein Platz, und wenn die beiden mit ihr sprachen, dann nur, um sich über sie lustig zu machen. So schien es ihr.
Wann hätte Friedrich jemals mit seiner Schwester geredet wie mit dieser 21-Jährigen, so als sei jedes Wort aus ihrem Munde eine Offenbarung?
Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft!8, wird er bald sagen. Vorbereitende Menschen nennt er den Lou-Typus, den Friedrich-Typus in seinem neuen Buch: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten ... gefährdetere, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! - das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: GEFÄHRLICH LEBEN! Baut Eure Städte an den Vesuv! Schickt Eure Schiffe in unerforschte Meere!9
Vielleicht ist es nicht falsch, vom Tautenburger Spätsommer 1882 nur für einen Augenblick nach Italien hinüberzuschauen. Denn in dem kleinen Ort Predappio, auf der Höhe Riminis landeinwärts gelegen, steht die Zeugung eines künftigen Nietzsche-Lesers unmittelbar bevor. Er wird das »Gefährlich leben!« zu seinem Wahlspruch machen, ja, man kann sagen, Friedrich Nietzsche wird diesen Mann erst schaffen, denn die Lektüre seiner Schriften bringt den jungen Sozialisten schließlich vom Sozialismus ab und auf seinen ureigenen Weg. Sein Name ist Benito Mussolini.10
Nur verwechselt mich nicht!, bittet Friedrich Nietzsche immer wieder, vergebens. Schon seiner eigenen Schw
Inhalt
Vorweg 9 Dionysos 1943 13 1 "Fritz ist anders geworden ..." Allein in Tautenburg (Elisabeth) Allein in Naumburg (Friedrich) Franziska Sich anlehnen dürfen Das Kind heiratet Die Getäuschte "Du bist eine Schande für das Grab deines Vaters!" Das Schweigen des Philosophen Waldweben "Also begann Zarathustras Untergang" Fliegenpilze suchen Ingwer mit Zwieback Die Geburtstagstorte November I (Friedrich) Die erste Erinnerung oder Ankunft in Naumburg November II (Elisabeth) Santa Marguerita Ligure, poste restante 2 Wie heiratet man einen Antisemiten? Ein Gehirn mit einem Ansatz von Seele "Entweder er heirathet sie, oder er erschießt sich ..." Advent Der entlassene Bittsteller Edmund Kantorowicz, Straßenbahnfahrer "Himmel! Was bin ich einsam!" oder Der Heilige Abend des Übermenschen "Wo ist Fritz?" Sanctus Januarius, der Zweite Wagner ist tot oder Elisabeth in Bayreuth Die Einladung Noch einmal Frühling in Rom Das gestrichene Kapitel Du gehst zu Frauen? Sils Maria, Sommerwinter 1883 Der Zorn des Zarathustra Mitleidige und Tugendhafte Die Liebende, abermals "Sie muß fort nach Paraguay" Von der Lust, irgendjemandem ins Gesicht zu spucken 3 Im Lamaland Auf die Schiffe, ihr Philosophen! Milchvieh und ein Pferd für Nietzsche Der Försterhof bei Försterrode Der Kaiser ist tot. Es lebe der Kaiser! Apostel-Kritik Der Abschiedsbrief Schlechte Nachrichten Chloral oder Dr. Försters Ende Die Pfütze 4 Überlieschen oder die Rückkehr der Dschungelfrau Eli Förster in Berlin 245, "Der Wald steht leer ..." Der Wille zur Macht. Erster Versuch "Heil dir, Schiff!" Der "Lastwagenstil" des Heinrich Köselitz oder Die Suspendierung eines Herausgebers Überlieschen Der 50. Geburtstag Das entsetzliche Bild Erfolgsautorin Elisabeth Würdiger verbrauchen! Die Unterschrift Dr. Rudolf Steiner Vorlesungen für eine Einzelhörerin Die Katastrophe "Der Fall Elisabeth" Franziskas letzte Weihnachten Vorsätze am Meer "Droben ist ein wahnsinniger Philosoph eingezogen!" 5 Das neue Weimar Der erste Gast und ein Abschiedsbrief "The Eagle and the Serpent. A Journal of Egoistic Philosophy and Sociology" Ich, ein Kriecher? 28 Seiten an Heinrich Köselitz "... also wirken sie die Strümpfe des Geistes" Wir Philologen! Zarathustras Ende "Mein Programm für das Großherzogthum Weimar" Die Marketingdirektorin oder Von der Schöpfung eines Hauptwerks Die Berufu…