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Ein Erinnerungsbogen aus Prosa, Poemen und Photographien, vom Jahrhundertwechsel 1900 bis zur Wende 1989 In einem Buch voller Geschichten, Verse und seltener Photographien zeigt sich Durs Grünbein von der autobiographischen Seite. Doch greift er weiter zurück, dorthin, wo das 20. Jahrhundert in frühen Konturen sichtbar wird. Von Hellerau, der Gartenstadt am Rande Dresdens, strahlt damals ein Lebensreformprogramm weit über die Grenzen eines Vororts hinaus: Sie wird Station für Kafka, Rilke, Benn und viele andere. Für Grünbein wird sie zum Ausgangspunkt, zu einer Stätte von prägender Kraft für den eigenen Lebensweg. Von hier aus geht es weiter hinein in das Jahrhundert: Die Schicksale der Vorfahren väter- und mütterlicherseits, doch nicht weniger das ihm überlieferte Trauma der Zerstörung Dresdens sind schon Erzählungen, die tief in den Kreis seiner eigenen Erfahrungen eindringen. Über das atmosphärisch dichte Erlebnis der heimatlichen Brachen und der russischen Besatzung öffnet sich dann aber, in dieser äußersten Ecke des östlichen Deutschlands, ein konkreter Raum des Erinnerns: Und so entsteht das Bild seiner Kindheit - am Rand der Geschichte in den langen Sommern des Kalten Krieges. Freundschaften und frühes Leid, schulische Erfahrungen und erste Lektüren, Lieblingsspielzeuge, (Berufs-)Träume, Phantasien und Phantasmen entfalten sich in einem farbenreichen Kaleidoskop aus autobiographischer Prosa, Poemen, Reflexionen und, nicht zuletzt, vielen Funden aus der reichen Bildersammlung des Dichters.
Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Seit 1986 lebt er nach kurzzeitigem Studium in Berlin, als Dichter, Übersetzer und Essayist.
Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Peter-Huchel-Preis , den Georg-Büchner-Preis , den Literaturpreis der Osterfestspiele Salzburg 2000, den Friedrich Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt 2004 und den Berliner Literaturpreis 2006 der Preussischen Seehandlung verbunden mit der Heiner-Müller-Professur 2006 .
Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Hellerau, die Gartenstadt am Rande Dresdens, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Station für Kafka, Rilke, Benn und viele andere, wird für Durs Grünbein zu einer Stätte von prägender Kraft für den eigenen Lebensweg. Von hier aus geht es hinein in das Jahrhundert: Die Schicksale der Vorfahren väter- und mütterlicherseits ebenso wie das ihm überlieferte Trauma der Zerstörung Dresdens sind Erzählungen, die tief in den Kreis seiner eigenen Erfahrungen eindringen. Über das atmosphärisch dichte Erlebnis der heimatlichen Brachen und der russischen Besatzung öffnet sich in dieser äußersten Ecke des östlichen Deutschland ein konkreter Raum des Erinnerns. So entsteht das Bild seiner Kindheit am Rand der Geschichte in den langen Sommern des Kalten Krieges. Freundschaften und frühes Leid, schulische Erfahrungen und erste Lektüren, Lieblingsspielzeuge, Träume, Phantasien und Phantasmen entfalten sich in einem farbenreichen Kaleidoskop aus autobiographischer Prosa, Poemen, Reflexionen und, nicht zuletzt, vielen Funden aus der reichen Bildersammlung des Dichters.
Autorentext
Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkmächtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis, den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.
Leseprobe
Fischwaren
1
Aufgewachsen bin ich in einem alten Dresdner Mietshaus, das der Krieg begnadigt hatte; es gehörte jedenfalls nicht zu den zwanzig Prozent, die über Nacht wie vom Erdboden verschluckt wurden. Das graue Eckhaus, ein Gründerzeitkasten mit blatternarbigen Mauern, lag an einer der vielbefahrenen Straßen des Stadtteils, dessen Name mir später noch zwei Mal als Echo entgegensprang - aus der römischen Geschichte und aus der Literatur der Goethezeit - und also von weit her geholt schien: Cotta.
Das Haus stand als einziges seiner Art frei. An die Geräuschkulisse ringsum kann ich mich lebhaft erinnern, wenn ich die Augen schließe, in letzter Zeit kehrt sie manchmal im Halbschlaf zurück. Ein herzerfrischender Lärm lag in der Luft dieses Viertels. Es ging dort zu wie auf einer venezianischen Bühne in den Zeiten der Commedia dell'arte. Am liebsten wurde Goldoni gespielt, "Krach in Chiozza". Jemand riß plötzlich ein Fenster auf und schrie hinaus in den Garten, in dem an langen Leinen zwischen Obstbäumen die Wäsche trocknete. Ein Preßlufthammer tanzte um den Bordstein. Oder ein Fußball knallte gegen die Brandmauer, die das Grundstück von der nächsten Parzelle trennte. Wenn die Straßenbahn um die Ecke rasselte, wurde das ganze Gebäude wach gerüttelt. Die Fensterscheiben klirrten jedesmal von den vorüberrumpelnden gelben Waggons der Linie 1, der ältesten, die schon damals eine Stadtlegende war. Nur in dem Fischladen im Erdgeschoß, an der stilleren Seitenstraße gelegen, blieb es auffällig ruhig. Vor den Mäulern der nach Luft ringenden Fische verstummte, wie unter Wasser, das Rauschen der kleinen Vorstadtwelt.
Unterm Dach lag die kleine Wohnung der Eltern, durch das Treppenhaus mit den ausgetretenen Sandsteinstufen über ein paar zusätzliche Holzstiegen erreichbar. Es war keine Wohnung, eher ein Taubenschlag. Ein langer, schlauchartiger Flur führte zu dem einzigen Zimmer, das ihnen gehörte. Küche und Bad teilten wir uns mit der Vermieterin, einer Märchengreisin, nahezu hundertjährig, mit schlohweißem Haar, seit langem Witwe: Sie hatte das Zeug zur Wahrsagerin. Das alte Weiblein hat meine Mutter einmal damit erschreckt (und nachher entzückt), daß sie im Flur vor dem Spülstein das Kind aus ihren Armen an sich heranzog und ihm aus der Hand las. Da fiel ihr das tief in den Babyspeck eingezeichnete M auf, und sie fing an, hexenhaft zu kichern, eine uralte Hexe des guten Willens.
Im Erdgeschoß wohnten die Großeltern. Sie hatten das junge Paar, das dankbar war für das Stück raren Wohnraums, in ihre Einflußsphäre gelotst, eine praktische Lösung für alle. Das klassische Trio Vater, Mutter, Kind hielt sich oft auf da unten, wo das Gemäuer und der Steinboden kälter waren, bei den Altvorderen, die weniger beengt hausten als die studentischen Turteltauben oben mit ihrer einzigen Brut.
Die Zimmer der Großeltern grenzten an die Verkaufs- und Lagerräume jenes Fischladens. Man brauchte nur dem Geruch zu folgen, einmal ums Haus herum, schon stand man vor einem Aquarium, las überm Eingang das verblichene Schild mit der Aufschrift "Fischwaren" und hatte den Hafen erreicht. Die Benennung war absichtlich so abstrakt gehalten, um die wilden Phantasien zu unterdrücken. Man fuhr nicht auf Meere hinaus bei dem Wort Waren , man war sofort eingestimmt auf die schütteren Reihen von Konservenbüchsen und Einmachgläsern voll trüber Tunke, die einen drinnen erwarteten. Daß Fisch nicht stinken darf, nicht, wenn er frisch ist, lernte ich erst in einem späteren Leben.
Der Geruch war auch der Grund für die niedrigen Mieten, die man in den davon heimgesuchten Häusern bezahlte - ein Vorteil, der den Großeltern seit den späten zwanziger Jahren, den Zeiten allgemeiner Arbeitslosigkeit, zugute kam. Damals kannten nur Zeitungsleser den Namen Hitler, aber jeder Dresdner