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Die Christin Menawar nimmt uns mit hinein in das faszinierende Syrien ihrer Kindheit. Wir tauchen ein in das idyllische Dorfleben im Nordosten des Landes, lernen uralte christliche Bräuche kennen und die Träume einer jungen Frau. Doch als die jungverheiratete Mutter mit ihrem Mann vor Repressalien nach Deutschland fliehen muss, scheinen diese zunächst zerstört. Die Familie tut sich schwer im Deutschland der 1980er-Jahre. Kommunikationsprobleme und Missverständnisse behindern das Einleben. Doch als Menawar und ihre Familie eine christliche Gemeinde kennenlernen, die sie mit offenen Armen aufnimmt, wendet sich das Blatt. Menawars Glaube und die neuen Freunde helfen ihr, sich zu integrieren. Und sie wird selbst zur »Integrationshelferin« für Menschen, die aus Syrien flüchten müssen bis in die jüngste Zeit.
Autorentext
Menawar Youssef-Safar ist aramäische Christin und wurde 1964 im Nordosten Syriens geboren. Im Jahr 1986 floh sie mit Mann und Kind vor Repressalien und Verfolgung nach Deutschland. Heute lebt sie in der Nähe von Braunschweig. Seit 20 Jahren gibt sie Kochkurse, in denen die Teilnehmer einen Einblick in die syrische Küche erhalten.
Leseprobe
Kapitel 1 Vom Schnee zum Licht Meine Geschichte beginnt im Januar 1964 in dem kleinen Dorf Bab al-Hadid im Nordosten Syriens. Bei Syrien denkt man zunächst an brennend heiße Wüstensonne und nicht an Schneestürme und Eiseskälte. Doch in diesem Januar zeigte sich der Winter von seiner kältesten Seite, so, wie er in dieser Region nur selten vorkommt. Tagelang hatte es geschneit und inzwischen lag der Schnee über einen halben Meter hoch. Es gab kaum noch ein Durchkommen. Schneeräumfahrzeuge gab es keine. Die Menschen versuchten, die Wege mit Schaufeln passierbar zu halten und die Eingänge zu ihren Häusern frei zu machen, damit man überhaupt die Türen öffnen konnte. Abends saß meine Familie wie jeden Tag in dem von einer Petroleumlampe erleuchteten Zimmer, in dem ein Ofen seine wohlige Wärme verbreitete. Dies war jedoch kein Abend wie jeder andere. Alle waren sehr aufgeregt. Mein Vater rannte immer wieder zum Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus. Doch außer Schneeflocken, die immer noch vom Himmel fielen, konnte er nichts entdecken. Inzwischen war es schon Mitternacht, doch von der erwarteten Person fehlte immer noch jede Spur. Da rief meine Mutter auf einmal: Jetzt ist es so weit. Das Kind kommt! Wir können nicht länger auf die Hebamme warten. Wir müssen es alleine schaffen. Unter den Anweisungen meiner Mutter packten alle mit an und ich kam auf die Welt, noch bevor die Hebamme sich ihren Weg durch das verschneite Dorf gebahnt hatte. Was für eine turbulente Geburt, doch das sollte noch nicht alles sein. Ein kleines Mädchen!, freuten sich alle. Wir wollen sie Berfe nennen, sagte mein Vater weil sie in dieser schneereichen Nacht geboren wurde. (Berfe kommt aus dem Kurdischen und heißt Schnee.) Die Freude meines Vaters über meine Geburt war nicht selbstverständlich, denn in muslimisch geprägten Ländern hält sich die Freude über ein Mädchen im Allgemeinen in Grenzen. Alle warten eigentlich auf einen Jungen, dessen Geburt dann stolz verkündet wird. Doch bei meinen Eltern war das zum Glück anders. Mein Vater erzählte überall voller Stolz, dass ihm eine Tochter geboren wurde. Schon bald hatte sich die Nachricht meiner Geburt im ganzen Dorf verbreitet. Da Geburten in der arabischen Kultur immer auch ein Ereignis der sozialen Zusammenkunft darstellen (und nicht, wie in Europa üblich, in der Abgeschiedenheit eines Krankenhauszimmers stattfinden), fanden sich immer mehr Dorfbewohner im Haus meiner Eltern ein, um ihnen zu gratulieren. Alle Freunde und Bekannten und vor allem die Kinder kamen vorbei. Das war ein Riesentrubel. Den ganzen Tag über gaben sich die Besucher die Klinke in die Hand und auch am nächsten Tag war es nicht anders. Für die Kinder war es ein riesiger Spaß, denn es gab viele Süßigkeiten. Sie aßen so lange, bis die Erwachsenen mahnten, dass es genug sei. Mein Vater hatte säckeweise die besten Bonbons eingekauft und verblüffte damit alle Besucher. Es war doch nur ein Mädchen geboren worden. Für meinen Vater waren jedoch alle seine Kinder gleich wichtig. Um dieses nach außen ganz deutlich zu machen, bevorzugte er sogar uns Mädchen. Das hat sich auch auf unser späteres Leben ausgewirkt und mein Vater hat sein Verhalten nie bereuen müssen. Es waren nicht in erster Linie die Jungen der Familie, die auf ihn gehört haben und auf die er sich verlassen konnte, sondern wir Mädchen waren seine rechte Hand und unterstützten ihn, wo wir nur konnten. Für meine Mutter waren diese ersten Tage nach der Geburt sehr anstrengend. Gerade erst hatte sie ein Kind zur Welt gebracht und schon war das ganze Haus voller Besucher, die sie versorgen musste. Und so saß sie am Abend müde auf einer Matratze, die am Boden lag und als Sitzgelegenheit diente. Sie hatte mich auf dem Arm sanft in den Schlaft gewiegt und war dabei selbst eingeschlafen. Mein damals drei Jahre alter Bruder sah nun seine Chance gekommen, sich noch einmal mit Bonbons zu versorgen, ohne dass Mama das mitbekam. Die Süßigkeiten standen in der Ecke des Zimmers. Wenn er nur schnell genug war, würde keiner merken, dass er sich welche stibitzte. Der Kleine sah sich um, aber Papa befand sich nicht im Raum, also war die Luft rein. Es war bereits recht dunkel. Nur eine kleine Lampe brannte in einer Ecke. Mein Bruder lief schnell los, hatte aber die Beine meiner Mutter übersehen. Er stolperte und fiel so unglücklich auf ihren Unterleib, dass meine Mutter nicht nur aufwachte, sondern schwer verletzt mit Blutungen in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Doch was sollte aus mir werden? Ich war jetzt ohne Mama. Ins Krankenhaus konnte ich nicht mitkommen. Babynahrung aus Pulver, wie sie in Europa benutzt wird, gab es in unserem Dorf nicht. Wovon sollte ich nun leben? Doch da fand sich eine wunderbare Lösung. Zwei unserer Nachbarinnen hatten vor Kurzem ebenfalls ein Kind geboren. Diese beiden Frauen kümmerten sich nun um mich und säugten mich abwechselnd an ihrer Brust. So war ich dann schon recht kräftig, als Mama nach einiger Zeit wieder aus dem Krankenhaus zurückkam. Auch in den Tagen, in denen meine Mutter im Krankenhaus war, kamen weitere Leute aus dem Dorf, um meinem Vater zu gratulieren und mich, das neugeborene Baby, zu sehen. Ich war gerade fünf Tage alt, da kam der Lehrer aus unserer Dorfschule, ein junger Mann, der gerade seine Ausbildung beendet hatte und aus der großen Stadt Homs in unser kleines Dorf versetzt worden war. Zum ersten Mal war er allein so weit von zu Hause entfernt und fühlte sich sehr einsam. Während der Schulzeit bestand für ihn keine Möglichkeit, nach Hause zu fahren. Und die Sommerferien waren noch weit entfernt. Er vermisste seine Familie und besonders seine Verlobte. So kam es zu folgender Szene: Er sah mich an und rief dann zu meinem Vater gewandt aus: Was für ein süßes Mädchen! Ich gratuliere dir. Habt ihr dem Kind schon einen Namen gegeben? Mein Vater antwortete: Ja, wegen des vielen Schnees haben wir sie Berfe genannt. Ich hatte aber noch keine Zeit, zur Behörde zu gehen und das Kind anzumelden, fügte er entschuldigend hinzu. Da bekam der Lehrer leuchtende Augen und begann herumzudrucksen: Du, Onkel , Onkel ist bei uns eine respektvolle Anrede für ältere Leute. Dabei ist es egal, wie viel älter der andere ist. Es können auch nur zwei oder drei Jahre sein. ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte. Dein kleines Mädchen sieht so niedlich aus, sodass ich gleich an meine Verlobte denken musste. Du weißt, ich vermisse sie so sehr. Wäre es möglich, dass du deine Tochter nach meiner Verlobten benennst? Sie heißt Menawar. Dann ist ein Teil meiner Verlobten hier im Dorf und ich fühle mich nicht mehr so einsam. Mein Vater überlegte kurz und sagte dann: Ja, ich will das dir zuliebe tun. Das Kind soll nicht mehr Berfe, sondern Menawar heißen. Und so bin ich zu meinem Namen gekommen: Menawar, das Licht.