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In den letzten Jahren ist Multikulturalismus als Theorie und Politik der Anerkennung von Gruppenrechten unter Druck geraten. Verantwortlich dafür ist auch eine zunehmende Wahrnehmung problematischer Praktiken ethnischer und religiöser Gruppen, wie etwa der Zwangsheirat. Sexuelle Kontrolle findet sich aber nicht nur hier, sondern zeigt sich auch im Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe. Die Autorinnen und Autoren untersuchen diese Problematiken aus juristischer wie aus sozialanthropologischer Perspektive für Österreich, Großbritannien und die Türkei und zeigen die Notwendigkeit auf, die Debatten um kulturelle Unterschiede, Geschlechtergleichheit und sexuelle Autonomie zusammenzuführen.
Autorentext
Sabine Strasser ist Associate Professor an der Middle East Technical University (METU), Ankara, und Senior Researcher an der Universität Wien. Elisabeth Holzleithner ist Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien.
Leseprobe
Sabatina James kam 1992 im Alter von zehn Jahren mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von Pakistan nach Linz in Oberösterreich. Sie lernte Deutsch, besuchte ein Gymnasium und wurde österreichische Staatsbürgerin. Mit 16 ließen sie ihre Eltern, weil ihnen die Tochter zu westlich geworden war, bei einer Tante in Pakistan. Diese schickte sie in Koranschulen, um eine anständige Frau aus ihr zu machen. Als sie gegen ihren Willen mit einem Cousin verheiratet werden sollte, wehrte sie sich zunächst, stimmte dann aber der Verlobung zu, um nach Österreich zurückkehren zu können. Wieder in Österreich, verließ sie nach einem (weiteren) Streit mit den Eltern ihre Familie, konvertierte zum Christentum und wurde daraufhin von ihrer Familie mit dem Tode bedroht. Sie suchte Schutz bei einem Pfarrer, der die damalige Gesundheits- und Frauenministerin Maria Rauch-Kallat von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) um Hilfe für Sabatina bat. Heute kümmert sich Sabatina James mit einer Stiftung um junge Frauen mit ähnlichen Erfahrungen und ist Botschafterin von Terre de Femme, einer Frauenrechtsorganisation in Deutschland. Die Bundesministerin war nach ihrer Begegnung mit Sabatina James betroffen und als sie kurz danach auch noch ein Mädchen aus Pakistan mit ähnlichen Problemen zurückholen musste, war sie davon überzeugt, dass diese Fälle nur die "Spitze eines Eisbergs" (Rauch-Kallat, Interview vom 07.05.2007) darstellten. Sie griff das Thema, das zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen Ländern Europas für hitzige Debatten sorgte, in einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag 2004 mit gleich fünf Ministerkolleginnen in einer Podiumsdiskussion auf. In den folgenden Jahren wurde der Kampf gegen die Gewalt an Frauen aus ethnisch und religiös minorisierten Kontexten zum Herzstück der österreichischen Frauenpolitik. Unter dem Schlagwort "traditionsbedingte Gewalt" wurden insbesondere Zwangsehen, weibliche Genitalbeschneidung und Ehrenmorde diskutiert und ExpertInnengespräche einberufen. 2006 wurde, wieder unter Zusammenwirken von sechs Bundesministerinnen, ein europaweites Network Against Harmful Traditions (NAHT) geschaffen. Maßnahmen gegen "traditionsbedingte Gewalt" oder "Gewalt im Namen der Ehre" werden auf Initiative von Feministinnen aus Pakistan, Indien, der Türkei und vielen anderen Ländern bereits seit den 1990er Jahren auf den UN-Weltkonferenzen für Menschenrechte diskutiert. Während Gewalt in den ersten globalen Übereinkommen zur Gleichstellung von Frauen - wie in der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW 1979) - als Thema gar nicht vorkam, wurde in UN-Dokumenten ab den 1990er Jahren explizit auf Gewalt im Namen der Ehre hingewiesen. 1997 sprach auch die CEDAW-Kommission in einem Monitoring-Prozess mit der Türkei und Israel "Ehre" als Rechtfertigung der Gewalt gegen Frauen an, und seit 2000 sind zahlreiche Aktivitäten und Forschungen initiiert worden (Sen 2005: 56). Im Jahr 2003 meldete sich schließlich auch der Europarat mit der Resolution 1327 zu Wort. Unter dem Titel "So Called Honour Crimes" wird unter Punkt 1 definiert, dass es sich dabei um eine "violation of human rights based on archaic, unjust cultures and traditions" handelt. Die Resolution betont, dass diese Gewalttaten nicht von religiösen, sondern von "kulturellen" Wurzeln verursacht seien; gleichzeitig wird aber bemerkt, dass die Mehrzahl der berichteten Fälle in Europa in muslimischen Gemeinschaften angesiedelt war. Obwohl die angesprochenen Formen von Gewalt an Frauen in Europa nach 40 Jahren Arbeitsmigration durchaus nicht neu waren, haben die Kämpfe immer mehr junger Frauen (und auch junger Männer) um Selbstbestimmung und Freiheit bei der Partnerwahl in den letzten Jahren zu steigenden Spannungen und zu einigen erschütternden Fällen von Zwangsverheiratung und Ehrenmord geführt. Junge Frauen, die sich den Erwartungen der Familien widersetzen, tragen nicht nur zu einer neuen Sichtbarkeit von Gewalt bei, sondern geben auch Anlass für mediale und gesellschaftliche Debatten ebenso wie für feministische Forderungen, den Multikulturalismus zurückzudrängen. Dem Multikulturalismus, dem ohnedies und auch dort, wo er gar nicht die Politik bestimmt hatte, die Schuld an sozialer Segregation und mangelnder Integration anhaftete, wird nun also auch die Fortschreibung der "traditionsbedingten Gewalt" und die anhaltende Ungleichheit der Geschlechter in ethnisch und religiös minorisierten Gruppen angelastet. Schon mit Beginn dieser politischen Debatten kristallisierten sich drei feministische Lager heraus: Eine Seite erklärte die Initiative gegen "traditionsbedingte Gewalt" für längst überfällig und sah in der öffentlichen Debatte einen wichtigen Schritt in Richtung Frauen- und Menschenrechte (wie beispielsweise Terre de Femme 2004; Mojab/Abdo 2004). Die andere Seite wies vehement auf die Gefahr hin, dass die Fokussierung auf "kulturelle" Formen der Gewalt in den ohnedies problematischen Debatten um Zuwanderung, Minderheiten und Integration zu Stigmatisierungen beitragen könnte (Volpp 2000; Razack 2004). Die dritte Gruppe schließlich versuchte Wege zu finden, welche die Diversität als Prinzip von Gleichheit anerkennen, Kultur nicht als Festschreibung von bestimmten Handlungen oder Traditionen sehen und trotzdem die Probleme von marginalisierten, abweichenden oder widerständigen Individuen in ethnischen oder religiösen Minderheiten nicht ignorieren wollen (Phillips 2007). Wir selbst sehen uns am ehesten dem dritten Zugang verbunden. Der geschärfte Blick für die gefährdeten, abweichenden oder widerständigen Individuen in minorisierten Kontexten führte zwar zu Forderungen nach Geschlechteregalität auch aus konservativen und bis dahin wenig feministischen Kreisen, bewirkte aber gleichzeitig eine Fokussierung auf jene Gewalt, die minorisierten Frauen "in anderen Kulturen" angetan wird. Damit wurde zunehmend die Rolle des angeblich liberaleren Mainstreams bei der Aufrechterhaltung von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, Kinder und sexuelle Minderheiten in der Gesellschaft vernachlässigt. Beispielsweise hatte die bereits erwähnte Frauenministerin trotz ihres Engagements für die "Migrantinnen zweiter Generation" und gegen Gewalt an minorisierten Frauen keine Einwände gegen lange Wartezeiten bei der Familienzusammenführung und gegen den nur eingeschränkten Zugang von nachgereisten Frauen zum Arbeitsmarkt. Beides - kürzere Wartezeiten und sofortiger Arbeitsmarktzugang - wären aber Möglichkeiten, um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von minorisierten Frauen zu fördern. Die Fokussierung auf die Gewalt "der anderen" wird dann suspekt, wenn gleichzeitig die Zuwanderungs-, Integrations- und Frauenpolitik in einem Land kaum Bemühungen um minorisierte Frauen erkennen lassen. Diese eigentümliche Selektivität prägt die Ause…
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