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Ich glaube, die meisten Menschen wissen, wie weit sie gehen dürfen. Und nur ganz Wenige - so wie Sie - wissen, wie weit sie gehen müssen! Wie weit darf, wie weit soll man sich aus dem Fenster lehnen, wenn das Glück eines verheirateten Mannes außerhalb von Ehe und Familie, oder - für einen sich gerade beruflich etablierten Arzt - das Wohl eines Patienten jenseits zugelassener Behandlungsmethoden liegt? Wieder sind es offenbar zufällige Begegnugen, die auch den Helden von Dieter Klingers zweitem Roman dazu veranlassen, die bewährten Wege und Werte zu hinterfragen und sich immer mehr aufs Glatteis zu wagen.
"Es ist die authentische, sehr genaue Sicht auf die Zeitgeschichte, von der dieser Roman lebt."
Autorentext
Dieter Klinger, 1944 in Znaim geboren, verbrachte seine Kindheit und Schulzeit in Wien. Nach mehreren Kurzgeschichten verfasste er während des Medizinstudiums seinen ersten Roman "...Und dennoch lachen sie wieder". Nach der Promotion als Arzt in Mödling tätig, entstand die Idee zu "Das vierte Leben", einer Geschichte, die bewährte ärztliche Behandlungswege und persönliche Lebensprinzipien in Frage stellt und durch diese Hinterfragung einen schicksalshaften Verlauf ins Rollen bringt.
Zusammenfassung
Sie ist in der Blüte ihrer Jugend. Doch seit ihrem Fehltritt im Roggen ist Freda von Rützow eine gebrochene Frau. Das Kind jener romantischen Stunden hat sie auf Drängen ihres Vaters weggegeben. Jahrelang lastet die Erinnerung an die wenigen Minuten, die sie mit ihrem Baby verbringen durfte, auf ihr. Unter der Schreckensherrschaft der Nazis bekommt Freda Gelegenheit, ihre Schuld zu sühnen. Sie hält einen jüdischen Jungen in ihrer Wohnung versteckt, betreut und erzieht ihn. So befreit sie sich von der Last der Vergangenheit und findet in düsterer Zeit doch noch Glück und Liebe. Irina Korschunow ist mit packenen Schilderungen von Menschen und Milieu bekannt geworden. Welt am Sonntag
Leseprobe
Freda, die eigentlich Friederike hieß, Friederike von Rützow, war siebzehn, als sie in den Roggen geriet. Eine Katastrophe nannte es ihr Vater, doch des einen Eule ist des anderen Nachtigall, und Harro Hochberg, der damals noch mit seinen Rasseln und Klötzchen spielte, wird ihrem Fehltritt eines Tages seine Rettung verdanken. Zwei Geschichten, die eine hier, die andere dort, viel Zeit noch, bis beide sich mischen. Aber sie gehen aufeinander zu.
Es begann im Juli 1923, kurz vor der Ernte, der Roggen stand hoch. Gelber Roggen, wohin man sah, Klatschmohn und Kornblumen dazwischen, die Sommerfarben der Mark, und dass so etwas hier und in seiner Familie passieren könne, erklärte Herr von Rützow, liege an der Unordnung, die um sich greife nach dem verlorenen Krieg. Der Kaiser im Exil, das Reich zur Republik verludert, und nun dies.
»Und nun dies«, schrie er in seinem Zorn, der schnell hochschoss und wieder zusammenfiel, man kannte es und nahm es hin. Er war der Herr in Großmöllingen, alles seins, die Felder und Koppeln, die Scheunen und Remisen, das Schloss im Park, die niedrigen Katen an der Dorfstraße, eigentlich auch die Leute darin, obwohl jeder gehen konnte, falls es ihn juckte, nach Berlin oder Amerika. Die meisten jedoch blieben, wie ihre Väter und Großväter, weiterhin unter den Dächern des Herrn Baron, ein guter Herr im Allgemeinen, aufbrausend, aber gerecht und zugänglich für Sorgen und Nöte, wenn sie ihre Arbeit taten und den roten Agitatoren keine Chance gaben, die gewohnte Ordnung in Großmöllingen durcheinander zu bringen. Denn nur die Ordnung, so sein Credo, halte die Welt zusammen, im Großen wie im Kleinen. Und nun seine Tochter und dies.
Gewalt, stammelte Freda und erzählte etwas von einem fremden Streuner, der sie in den Roggen gezerrt habe, lauter Lügen, Friedrich von Rützow glaubte kein einziges Wort. Doch weil der entschwundene Kindsvater als Ehemann ohnehin jenseits jeder Debatte stand, sparte er sich die Mühe, hinter ihm her zu forschen, sondern tat das in solchen Fällen Übliche. Schweren Herzens, er liebte diese Tochter, wenn auch auf seine Weise, preußisch, doch es gab nur den einen Weg, um das Schlimmste abzuwenden, und Freda fügte sich. Das Schlimmste, wird sie ihm irgendwann sagen, habe ihr seine Ordnung angetan. Aber noch senkte sie den Kopf und schwieg, was sonst auch nach den Jahren unter seiner Alleinherrschaft, immer nur du sollst, nie ich will.
Fraglich, ob die kleine Friederike von Gurrleben, kurzzeitig Frau von Rützow, den Mut besessen hätte, mildernd in die väterlichen Erziehungsprinzipien einzugreifen. Mit siebzehn war sie ins Großmöllinger Schloss gekommen, zehn Monate später auf den Friedhof, wo ein weinender Engel über die toten Rützows wachte. Freda kannte sie nur als Bild im Kaminzimmer, dunkle Augen, dunkles Haar, Rosen am Gürtel, deine Mutter. Der neuen Frau von Rützow, fast ebenso jung, gelang es nicht, die Vakanz zu füllen, und gut, dass Katharina Hook, deren Säugling gestorben war, das Schlosskind an ihrer Brust genährt und gehätschelt hatte und vorläufig blieb. Katta, rund, weich und tröstlich in den ersten Jahren. Lass man, Kleene, wird schon wieder, murmelte sie, wenn etwas wehtat außen oder innen, eine magische Formel auch noch späterhin, dank der Stiefmutter, die ihr, nach Fredas sechstem Geburtstag, das Kommando in der Näh- und Bügelkammer anvertraute, nur eine Treppe höher als der Kindertrakt.
Statt ihrer war Mademoiselle Courrier dort eingezogen, eine dürre Pariserin, durch deren Hände bereits mehrere Mädchen der Verwandtschaft gegangen waren. Sie erschien im April 1912, blieb sieben Jahre und vermittelte, während des Ersten Weltkriegs als Herr von Rützow als Major seinem Kaiser diente, Freda die nötigen Kenntnisse im Schreiben, Lesen, Rechnen, anschließend noch das Pensum der ersten Klassen einer höheren Töchterschule sowie diese und jene Fertigkeit im Sticken, Malen und am Klavier, das Übliche eben. Vor allem aber brachte sie ihr in galoppierendem Französisch bei, was man tun und sagen durfte und was nicht, wie man aß, saß, ging, stand, lachte, weinte und dergleichen, mit dem Ziel, sie für die nächste Etappe in Form zu bringen: das Potsdamer Elisenstift, jene altehrwürdige Anstalt, wo junge Mädchen von Familie seit Generationen auf ihre Konfirmation und die künftige Rolle in der Gesellschaft vorbereitet wurden. Auch kaiserliche Hofdamen hatten hier den letzten Schliff erhalten, und wahrhaftig ein Hohn, dass die Saat zu dem, was Herr von Rützow Katastrophe nannte, ausgerechnet in diesem Haus gelegt werden sollte.
Zu Beginn des Schuljahrs 1919, nur wenige Monate nach dem verlorenen Krieg, wollte er Freda dort der Pröbstin übergeben, ein Ereignis, dem sie mit Unbehagen entgegensah, seitdem Katta die Stiftsuniformen aus der Truhe geholt hatte, um wenigstens die Röcke zu stutzen. Dickes braunes Winterzeug, hellblaue Sommerkleider und rosa für die Feiertage, sackartige Gebilde, schon von Tanten und Großtanten getragen, nur dass Rützowtöchter durchweg etwas klobig gerieten und die zierliche Freda darin versank. Egal eigentlich, Eitelkeit war im Stift ohnehin verpönt. Beim Blick in den Spiegel jedoch schien plötzlich alles Feste zu zerfließen, wie im Albtraum. Sie fing an zu weinen, gegen die Gebote, mit dreizehn weint man nicht mehr, und Katta nahm sie in den Arm, lass man, Kleene, wird schon wieder, der alte Zauberspruch. Doch dann, als sie in vorschriftsmäßigem Rosa der Pröbstin übergeben wurde, war der Zauber dahin.
Sie fürchtete sich vor der hochgewachsenen Frau in Schwarz mit dem strengen Lächeln, deren »Willkommen, mein Kind, ich hoffe, du wirst deiner lieben Mutter nacheifern« wie eine Drohung klang, fürchtete sich vor der dunklen Halle, der Stille im Haus und dem, was dahinter lauerte, wusste indessen, dass man solche Regungen nicht zeigen durfte, es außerdem zwecklos war. Also lieferte sie ihren Knicks nebst Handkuss ab und wurde zum Elisenmädchen, ein Attribut, das den Absolventinnen der Anstalt lebenslang erhalten blieb, ob es i…