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Wie wurden Menschen zu Nationalsozialisten? Anhand einer bislang kaum untersuchten Gruppe den in den Wohngebieten eingesetzten unteren NSDAP-Funktionären schildert Christine Müller-Botsch Motivationen und Handlungsweisen verschiedener Typen von Funktionären auf der Grundlage ihrer Biografien. Sie liefert damit einen tiefen Einblick in die Gründe für den Erfolg des nationalsozialistischen Regimes und in dessen Funktionsweise.
Autorentext
Christine Müller-Botsch, Dr. phil., ist Mitarbeiterin der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte der Freien Universität Berlin und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
Leseprobe
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage, inwieweit mit einem fallrekonstruktiven biographischen Forschungsansatz auf der Grundlage schriftlicher Selbstpräsentationen die Hinwendung zum Nationalsozialismus, die Funktionsübernahme und der Verlauf der Parteitätigkeit von un-teren NSDAP-Funktionären erklärt werden können. Zudem wurde gefragt, welchen Beitrag diese Herangehensweise für die Analyse der Funktions-weise der unteren NSDAP-Apparate leisten kann. Dafür wurde ein Verfah-ren entwickelt, NSDAP-Personalakten und Spruchkammerakten mit be-sonderem Fokus auf darin enthaltene Selbstpräsentationen biographieana-lytisch auszuwerten. Im Folgenden werden zentrale inhaltliche und me-thodische Ergebnisse der Arbeit noch einmal zusammengefasst und Aus-blicke auf künftige Forschungen gegeben. Biographische Fallstruktur und NSDAP-Funktion Der fallrekonstruktive Forschungsansatz hat wesentlich neue Perspektiven auf die Funktionäre der NSDAP eröffnet. Die vier Einzelfalldarstellungen zeigen, dass die Hinwendung zum Nationalsozialismus und die NSDAP-Parteitätigkeit im Kontext der jeweiligen biographischen Handlungsmuster und -orientierungen erfolgten und durch diese stark geprägt waren. Das Gemeinsame in den untersuchten Fällen belief sich auf drei Aspekte, die jedoch von den einzelnen Funktionären in sehr unterschiedlichen Variationen gelebt wurden: Alle untersuchten Funktionäre übernahmen Elemente nationalsozialistischer Ideologie und befürworteten nationalsozialistische Maßnahmen. Diese Übereinstimmung konnte von einem nahezu geschlossenen nationalsozialistischen Weltbild bis zu einer partiellen Übereinstimmung mit einzelnen Fragmenten der Ideologie oder NS-Politik reichen. Zweitens konnte bei allen Fällen eine partielle Kritik an Teilen nationalsozialistischer Ideologie und Praxis festgestellt werden, die vor allem im Spruchkammerprozess hervorgehoben wurde. Diese Kritik betraf wiederum verschiedene Aspekte und hatte ein sehr unterschiedliches Ausmaß. Sowohl die Bereiche der Übereinstimmung als auch die Bereiche der partiellen Distanz waren oftmals eng mit biographischen Themen der einzelnen Funktionäre verbunden. Schließlich setzten alle untersuchten Funktionäre die ihnen zugeteilten Parteiaufgaben um. In der empirischen Analyse wurde allerdings eine erhebliche Spannbreite hinsichtlich des Ausmaßes des Engagements und der Formen der Umsetzung deutlich. Die unteren NSDAP-Funktionäre verkörperten also nicht einen neuen einheitlichen Funktionärstyp, von dem die NSDAP-Propaganda sprach und dessen Existenz auch in totalitarismustheoretischen Arbeiten konstatiert wurde. Bereits von einzelnen Fallanalysen ausgehend können Verbindungen zu bestehenden Analysekonzepten über Verhaltensweisen im Nationalsozialismus geknüpft werden. Dies gilt etwa für Alf Lüdtkes Konzept von "Eigensinn" und "Gemengelagen", das die Gleichzeitigkeit von Hinnehmen und Mitmachen, Unterstützung und partieller Distanz zum Thema macht. "Eigensinn" wie auch "Gemengelage" werden in biographischen Fallanalysen empirisch rekonstruierbar. Allerdings, so die Analyseergebnisse, erweisen sich "eigensinnige Akte" als viel weniger diffus und unverknüpft als Lüdtke annimmt. Vielmehr unterliegt dieser "Eigensinn", das je fallspezifische Aneignen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, einer biographischen Strukturiertheit. Durch lebensgeschichtliche Analysen werden Elemente des jeweiligen "Gemenges" in ihrem Zusammenhang rekonstruierbar. Bemerkenswert ist die systemübergreifende Kontinuität der jeweiligen biographischen Handlungsorientierungen und Handlungsmuster bei den untersuchten Fällen, die sich in den Lebensgeschichten teilweise bereits beim Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik, dann von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus und vom Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit zeigt. Auf der Basis von 23 Fallanalysen wurden im Zuge kontrastiver minimaler und maximaler Fallvergleiche theoretische Verallgemeinerungen formuliert. Dies geschah zunächst entlang einiger ausgewählter Aspekte: So erwiesen sich bereits die Hinwendung und der Parteibeitritt als mit biographischen Handlungsorientierungen und -mustern eng verbunden. Die politische Selbstdefinition als Nationalsozialist erfolgte vielfach unter Bezugnahme auf jene mentalitätsgeschichtlichen Aspekte eines "deutschen Sonderwegs", die fallspezifisch in der bisherigen Lebensgeschichte bereits von Relevanz waren; dabei konnte es sich um antisozialistische, antiparlamentarische, antisemitische, etatistische, nationalistische oder militaristische Orientierungen handeln. Ebenso entwickelten sich Schwerpunktsetzungen und Formen der Funktionsausübung im Kontext der jeweiligen biographischen Handlungsmuster und Handlungsorientierungen. So legten einige Funktionäre einen Schwerpunkt auf militärische, andere auf organi-satorisch-planerische Aspekte der Parteiarbeit. Je nach ihrer Vorgeschichte und ihren biographischen Handlungsorientierungen wurden sie besonders aktiv in bestimmten Bereichen nationalsozialistischer Politik - in einer Bandbreite, die von der Verfolgung politischer Gegner und der jüdischen Bevölkerung bis zur gleichsam seelsorgerischen Betreuung von "Volksge-nossen" reichte. Zudem konnten etwa "dienende", offen gewalttätige sowie bürokratisch pflichtbewusste Formen der Funktionsausübung identifiziert werden. Sie sind zugleich Ausdruck biographisch gewachsener Habitus-formationen. Als Schlüssel zum Verständnis verschiedener Funktionärskarrieren erwies sich die Rekonstruktion der biographischen Bedeutung des Engagements. In einer Typenbildung, die auf dem kontrastiven Vergleich entlang einzelner Aspekte aufbaute, wurden vier Typen hinsichtlich der biographischen Bedeutung der Funktionsausübung konstruiert. Diese Typologie zeigt, inwieweit die biographische Bedeutung einer NSDAP-Funktionsausübung idealtypisch mit einem bestimmten Verlauf des Engagements sowie einem bestimmten Verhalten im Spruchkammerprozess korrespondiert. Mit den Typen "biographische Chance", "Modifikation biographischer Handlungs-orientierungen angesichts veränderter Herrschaftsverhältnisse", "Instru-ment zur Fortsetzung anderer biographischer Handlungsorientierungen" und "erzwungener Bruch mit biographischen Handlungsorientierungen" kann insbesondere auch der Prozesshaftigkeit politischen Handelns in den unteren NSDAP-Apparaten ab 1933 Rechnung getragen werden. Die Typenbildung liegt quer zu Gruppierungen nach sozialer Schich-tung oder etwa Generationen. So können Funktionäre unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Lage und Herkunft ein und demsel-ben Typus hinsichtlich der biographischen Bedeutung der Aktivität ange-hören. Der Verlauf der Funktionsausübung kann offenbar über die mit der Tätigkeit verbundenen Bedeutungsgehalte besser erklärt werden, als dies über soziale Merkmale der Funktionäre wie Alter, soziale Herkunft und Lage oder Parteieintrittsdatum möglich ist.
Inhalt
Inhalt 1. Einleitung 1.1. Anlage und Aufbau der Untersuchung 1.2. Die unteren Parteieinheiten der NSDAP: Organisation, Tätigkeitsfelder und Funktionäre 2. Biographieanalysen anhand von schriftlichen Selbstpräsentationen aus institutionellen Kontexten 2.1. Soziologische Biographieforschung und politisches Handeln 2.2. Zur biographieanalytischen Untersuchung von NSDAP-Personalunterlagen und Spruchkammerakten 2.3. Dar…