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Interdisziplinäre Stadtforschung
Eine Stadt ist wie ein offenes Buch. Als eine zeichenhafte Textur mit eingeschriebenen kulturellen Mustern prägt sie die Lebensformen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und legt bestimmte Arten des Umgangs mit Herausforderungen wie Gentrifizierung oder demografischem Wandel nahe. Auf den Spuren der Mythen Sevillas führt Christiane Schwab durch diese im äußersten Südwesten Europas gelegene Stadt. Die Autorin verknüpft historische Figuren und Ereignisse, ikonische Bauten, urbane Vorstellungswelten und Formen des Freizeit- und Arbeitslebens zu einer facettenreichen Interpretation Sevillas.
»Christiane Schwabs Sevilla-Studie ist ein wunderbares, materialreiches und zudem noch sprachlich gelungenes Buch über die Stadt und bietet neben seinen akademischen Qualitäten nicht zuletzt auch eine ideale Reiselektüre für kulturwissenschaftlich interessierte SevillafahrerInnen.« Jens Wietschorke, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Autorentext
Christiane Schwab, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Humboldt-Postdoc-Fellow der Humboldt-Universität zu Berlin.
Leseprobe
1 Einleitung Sevilla ist eine Stadt, aber auch ein Mythos, und dies ist Sevilla vor allem für seine Bewohnerinnen und Bewohner selbst. Ihren mythenhaften Gehalt verdankt die Stadt ihrer einstigen Größe als Ausgangspunkt der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas, ihrer Funktion als exotisches Reiseziel in der europäischen Romantik und nicht zuletzt ihrem Status als Hauptstadt Andalusiens und als internationale Tourismusdestination. Diese und weitere Eigenschaften haben nicht nur die politischen, sozialen, räumlichen, demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Stadt geprägt, sondern auch die Prozesse der Fremd- und Selbstbebilderung, die den Mythos Sevilla und eine Stadtlandschaft geformt haben, in welcher materiale und soziale Bedingungen mit ihren symbolischen Repräsentationen eine einzigartige Synthese bilden. Sevilla ist eine südeuropäische Stadt. Während auf ihren Straßen und Plätzen das Leben tobt, ruhen in den tieferen Schichten Ruinen aus weit entrückten Zeiten. Der Südwesten Spaniens ist eine der Regionen mit dem ältesten Städtesystem Europas, und dementsprechend vielfältig gestalten sich die historischen Funktionen, die Sevilla innerhalb dieses Systems ausgefüllt hat und die in seinen Sedimentierungen ihre Spuren hinterlassen haben. Der Legende nach durch den sagenumwobenen Herkules gegründet, war Sevilla bereits in der Antike unter den Phöniziern und als römische Kolonie ein regionales Landwirtschaftszentrum und eine der bedeutendsten Hafen- und Handelsstädte des westlichen Mittelmeerraumes (vgl. dazu Mayet/Sillières 1992). Diese Funktion verdankt sich der geschützten und verkehrsgünstigen Lage der Stadt etwa 100 Kilometer von der Atlantikküste entfernt, mit der sie der Fluss Guadalquivir verbindet. Seine Bedeutung als Handelsstadt büßte Sevilla auch nicht in seiner maurischen Zeit ein. 1248 wurde die Stadt durch das Königreich Kastilien erobert, bis sie im 16. Jahrhundert auf dem Höhepunkt ihrer Biographie angelangt war. Als Sevilla das Monopol auf den Handel mit den amerikanischen Kolonien zugesprochen bekam, wurde es zum Mekka für Händler, Bankiers, Missionare und Abenteurer und eine der größten und prächtigsten Metropolen Europas. Die Literaten, Maler und Bildhauer, die Sevilla in seiner Glanzzeit anlockte, machten es im 17. Jahrhundert zu einem Zentrum des Kunstschaffens und hinterließen eine barocke Ästhetik, die bis heute den stilistischen Ton in der Stadt angibt. Die künstlerische Blütezeit allerdings ging mit dem Niedergang Sevillas einher, das seine überragende Stellung nie wieder zurückgewinnen sollte. Wirtschaftliche Krisen, Seuchen und schließlich der Verlust des Handelsmonopols im Jahr 1717 verursachten eine lange Phase des ökonomischen und sozialen Stillstandes, der sich auch auf städtebaulicher Ebene auswirkte. Erst im 20. Jahrhundert wuchs das agrarisch geprägte Sevilla signifikant über seinen maurisch-mittelalterlichen Ummauerungsring hinaus, und zwei Großereignisse brachten neue Impulse für die Stadtentwicklung: die Iberoamerikanische Ausstellung von 1929 und die Expo im Jahr 1992. Auch wenn Sevilla in diesen Momenten etwas von seinem alten Glanz zurückgewinnen konnte, hatte sich die Bedeutung der Stadt auf ihre kulturellen und handelsbezogenen Funktionen im Hinblick auf den Südwesten Spaniens reduziert. Diese Position konnte Sevilla nach seiner Ernennung zur Hauptstadt der autonomen Region Andalusien im Jahr 1981 politisch und ideologisch ausbauen. Die regionale Zentralität, die Sevilla mit Ausnahme des amerikanischen Abenteuers über viele Jahrhunderte innehatte, bedingte auch eine enge Verknüpfung zwischen "sevillanischen" und "(west-)andalusisch" genannten Merkmalen, und in vielerlei Hinsicht zeigt sich Sevilla als eine spezifische Verdichtung von Strukturmerkmalen, welche den gesamten Südwesten des Landes auszeichnen (vgl. Kapitel 4.2). Nach einer langen Zeit der regionalen Isolation wurden für die Entwicklung Sevillas mit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Öffnung Spaniens nach 1975 auch wieder nationale und internationale Makrokontexte relevant, in deren Rahmen die Stadt mit neuen kulturellen Einflüssen konfrontiert wurde und die interstädtischen Relationen sich zunehmend wettbewerbs- und kapitalorientiert gestalteten. Angesichts des rasanten Wandels nicht nur der Stadt, sondern auch der lebensweltlichen Bezugssysteme ihrer Bevölkerung drängt sich die Frage auf, inwieweit sich die bewegte Biographie Sevillas und seine sedimentierten kulturellen Orientierungen unter diesen neuen Ordnungen bemerkbar machen. Wie erleben die Stadt und ihre rund 705.000 Bewohnerinnen und Bewohner die gewandelten Verflechtungen, und wie gestalten sich die lokalen Muster angesichts spätmoderner Transformationen? Dass Städte entsprechend ihren kulturellen Dispositionen, die sie im Verlauf ihrer Geschichte und ihrer Interdependenzbeziehungen zu den signifikanten anderen Städten ausgebildet haben, auf veränderte Bedingungen reagieren, ist nicht nur eine Beobachtung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Stadtforschung (vgl. Abu-Lughod 1999; Lindner/Moser 2006; Berking/Löw 2008; Zimmermann 2008), sondern entspricht auch den Grundthesen der ethnologischen Globalisierungsforschung (vgl. etwa Hannerz 1987; Inda/Rosaldo 2002). Wie sich nun die spezifischen wirtschaftlichen, räumlichen, sozialen und mentalen Muster Sevillas und ihre Symbolisierungen im Detail gestalten und die Entwicklung der Stadt sowie das Leben in ihr bestimmen, ist das Thema dieses Buchs. Lokale Mythen und Befindlichkeiten Mit größter Selbstverständlichkeit sprechen wir von der "bezaubernden Atmosphäre", die bestimmte Städte haben, von ihrem pulsierenden Leben oder der Langeweile, die sie ausstrahlen, von ihrem abweisenden Antlitz oder ihrer einnehmenden Eleganz. Inwieweit können wir aber - von solchen intuitiven Wahrnehmungen abgesehen - von "Mustern" oder "kulturellen Orientierungen" einer Stadt ausgehen, und in welcher Beziehung stehen diese zu den jeweiligen Symbolisierungen und Mythen, die über sie erzählt werden? Durch gemeinsame Seinserfahrungen in einer Stadt teilen wir bestimmte Dinge des alltäglichen Lebens und ein besonderes Wissen, das die Stadt in sich aufbewahrt. Dies gilt nicht für alle Bewohnerinnen und Bewohner in gleichem Maße, denn einerseits finden wir überall Ex-pertinnen und Experten, die ihre Freizeit oder auch ihr Lebenswerk einer Stadt widmen, und auf der anderen Seite gibt es vor allem in international stark vernetzten Städten immer auch Bevölkerungsgruppen, die ihr Leben überwiegend in translokalen Bezügen verorten. In der Regel aber leben die Bewohnerinnen und Bewohner einer S…