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Wissenschaftliche Forschung gilt gemeinhin als visuelles Unterfangen. In den exakten Wissenschaften wurde seit der Aufklärung jedoch auch das Gehör immer wieder als Erkenntnissinn mobilisiert. Axel Volmar rekonstruiert wesentliche Episoden auditiver Wissensproduktion, darunter die Erfindung des Stethoskops, Hörtechniken im Ersten Weltkrieg und die Geschichte des Geigerzählers als akustischem Messgerät, und leistet damit einen innovativen Beitrag zur Medien- und Sinnesgeschichte der Naturwissenschaften.
Autorentext
Axel Volmar ist Mellon Post-Doctoral Fellow am Department für Art History & Communication Studies der McGill University (Montreal).
Leseprobe
Erkenntnisform Klang-Experiment
"Was ist Hören? Das Aufspüren eines Signals inmitten des Hintergrundrauschens."
Michel Serres
Im Jahr 1761 erschien im Verlagshaus Thomas Trattner die medizinische Abhandlung Inventum novum ex percussione thoracis humani ut signo abstrusos interni pectoris morbos detegendi. In diesem schmalen, kaum hundert Seiten umfassenden Bändchen beschreibt der Wiener Spitalsarzt Joseph Leopold Auenbrugger die von ihm entwickelte Methode der Perkussion, ein dia-gnostisches Verfahren zur Erkennung von Brustkrankheiten durch das Abklopfen des Oberkörpers. Die Vorrede beginnt mit den Worten:
"Ich lege dir, günstiger Leser, ein neues von mir erfundenes Zeichen vor zur Ent-deckung der Brustkrankheiten. Es besteht dies im Anschlagen an den menschli-chen Brustkorb, aus dessen verschiedenem Widerhall der Töne sich ein Urteil über den inneren Zustand dieser Höhle gewinnen läßt. Weder der Anreiz zur Schriftstellerei noch der Überschwang der Spekulationen, sondern die siebenjährige Beobachtung war der Grund, das über diesen Gegenstand Entdeckte einzuteilen, zu ordnen und herauszugeben. [] Ich schrieb dasjenige nieder, was ich nach dem Zeugnis meiner Sinne unter Mühen und Anstrengungen immer wiederum in Erfahrung gebracht habe".
Die Perkussion wird bis heute praktiziert und gilt als ein entscheidender Schritt in der Entwicklung physikalischer Untersuchungsmethoden. Viktor Fossel, der 1912 für die von Karl Sudhoff herausgegebene Reihe "Klassiker der Medizin" eine Neuübersetzung aus dem Lateinischen unternahm, schreibt in seiner Einleitung sogar zuversichtlich, die Perkussion dürfe "die bedeutendste Leistung der Heilkunde des 18. Jahrhunderts genannt werden". Fossel stellt dabei insbesondere den "naturwissenschaftliche[n] Charakter" der Methode heraus und betont, diese sei "auf dem Boden der Erfahrung und Beobachtung ausgereift und erst dann ans Licht gekommen, nachdem die Versuche die Überprüfung bestanden, das Experiment bis zur Höhe des strikten Beweises gediehen war." Der emphatische Bezug zum naturwissenschaftlichen Experiment ist in diesem Fall insofern bemerkenswert, da die Verwissenschaftlichung der ärztlichen Diagnose mit einem Rückgriff auf das Ohr als beobachtendem Sinnesorgan einhergeht. Mit anderen Worten: Die Bestimmung von Krankheit wird bei Auenbrugger zur akustischen Experimentalsituation.
Mit der Perkussion kündigt sich Mitte des 18. Jahrhunderts ein spezifi-scher Erkenntnistyp an, der im Folgenden den Gegenstand dieser Studie bilden wird: Im Zuge der Verbreitung empirischer Methoden auf der epistemologischen Grundlage des wissenschaftlichen Versuchs entdecken die Naturwissenschaften das Gehör als Erkenntnisorgan. Auenbruggers "Zeichen" kann dabei modellhaft für ein breites Spektrum von Anordnungen und Praktiken stehen, die das Hören - zunehmend auch in Verbindung mit technischen Medien - zur Produktion und Interpretation experimentell erzeugter Daten nutzten. Annähernd zur gleichen Zeit wie Auenbrugger entwickelte etwa der englische Astronom James Bradley die sogenannte Auge-und-Ohr-Methode, um eine höhere Präzision bei der Messung von Sterndurchgängen zu erreichen. Mit der Erfindung des Ste-thoskops und der Auskultationsmethode durch den Pariser Arzt René Laënnec im Jahr 1816 entstand wiederum eine weitere und nicht minder revolutionäre diagnostische Hörtechnik im Bereich der Medizin. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernahmen Psychologen wie Wilhelm Wundt astronomische Experimentalanordnungen wie etwa die Auge-und-Ohr-Methode zur Durchführung von Reaktionsexperimenten, während in den Lebenswissenschaften das Telefon zur Beobachtung von Muskel- und Nervenströmen verwendet wurde. Diese Entwicklung setzte sich im 20. Jahrhundert fort. So entwarfen Experimentalpsychologen im Ersten Weltkrieg Apparate zur akustischen Lokalisation von Geschützen, Flugzeugen und Schiffen. Mit der Bioakustik bildete sich um die Analyse von Tierlauten ein ganzer Forschungszweig heraus. Akustische Darstel-lungen mit Geigerzählern bildeten seit den 1920er Jahren zudem einen festen Bestandteil strahlenphysikalischer Experimente zur Erforschung von Radioaktivität. Im Juni 1961, zweihundert Jahre nach der Ver-öffentlichung von Auenbruggers Traktat, berichtete der Psychoakustiker Sheridan Speeth schließlich von einem digitalen "akustischen Display", mit dem dieser unter anderem Musiker darauf trainiert hatte, in den mensch-lichen Hörbereich transponierte Seismogramme von Erdbeben und unterirdischen Atombombentests anhand ihres Klangs zu unterscheiden. Dieses Testverfahren, das zur Überwachung eines potentiellen Atom-waffensperrvertrags dienen sollte, gilt als ein wesentlicher Vorläufer der sogenannten "Sonifikation", das akustische Pendant zur wissenschaftlichen Datenvisualisierung. Seit 1992 existiert mit der International Community for Auditory Display (ICAD) eine internationale Fachgesellschaft, die sich primär mit der Erforschung von Sonifikationsverfahren und akustischer Datenrepräsentation beschäftigt. Gerade in den vergangenen zehn Jahren haben Ansätze von Wissenschaftlern, die ihr Datenmaterial zu Analysezwecken oder zur Veranschaulichung in einer akustischen Form aufbereiten und auf diese Weise etwa vulkanischer Aktivität (Geologie), Sonnenwinden und Gravitationswellen (Astronomie), simulierten Higgs-Bosonen (Teilchenphysik) oder Farbpigmenten (Restaurationswis-senschaft) lauschen, eine erstaunliche Konjunktur in naturwissenschaftli-chen Fachzeitschriften und den Wissenschaftsrubriken der Tagespresse erfahren.
Das vorliegende Buch handelt von Versuchsanordnungen, die in der Geschichte der Naturwissenschaften und verwandter Gebiete dazu dien-ten, wissenschaftliche Erkenntnisse mithilfe des Gehörs und akustischer Technologien zu gewinnen. Dabei geht es explizit nicht um akustische und auditive Phänomene als Gegenstände wissenschaftlichen Erkenntnisinteres-ses (wie etwa in der Akustik oder der Stimm- und Hörphysiologie), son-dern um ihre Funktion als epistemische Werkzeuge zur Produktion von Daten und Fakten, die Schlussfolgerungen auf der Grundlage wissen-schaftlicher Kriterien erlaubten. In diesem Sinne wird im Folgenden von Klang-Experimenten die Rede sein.
Sinnliche Erkenntnis
Auditive Formen der Wissensproduktion werfen einige grundsätzliche Fragen auf, die den Stellenwert des Hörens in der westlichen Kultur im Allgemeinen und in der naturwissenschaftlichen Forschung im Besonderen betreffen - Formen auditiver Erkenntnisproduktion scheinen buchstäblich nicht in das Bild zu passen, das wir üblicherweise mit wissenschaftlicher Forschungspraxis verbinden. Das ist wenig überraschend, ist doch die moderne westliche Kulturgeschichte ihrer Selbsterzählung zufolge von einer "Hegemonie des Visuellen" bestimmt, die nicht zuletzt und gerade auch die Weisen der Erkenntnisproduktion betreffe. Bereits Heraklit äußerte bekanntlich die Ansicht, dass die Augen "genauere Zeugen" als die Ohren seien. Seit Platon ist die Suche nach Wahrheit und der Weg zu gesicherter Erkenntnis in visuelle Metaphern gefasst und im Bild einer "Hierarchie der Sinne" - mit dem Auge an der Spitze - verdichtet worden: Das platonische Höhlengleichnis, in dem die im Schatten lebenden Unwissenden durch die Philosophie dem bildhaften Sonnenlicht der Erkenntnis z…