Antonio Lobo Antunes ließ sich für diesen Roman vom Schicksal eines berühmten portugiesischen Transvestiten inspirieren. Er geht den Verwirrungen und Selbstzweifeln eines Mannes nach, der als "Drag Queen" die Lissabonner Nachtclubszene beherrscht.
Als Paulo seinen Vater Carlos im Sarg sieht, ordentlich zurechtgemacht in Anzug und Krawatte, bekommt er einen hysterischen Lachanfall. Jahrelang kannte er ihn nur als Drag Queen, als Star der Lissabonner Nachtclubszene, und nur allzugern ließ er sich in diese zwielichtige Welt am Rande der Gesellschaft hineinziehen. Vor allem Carlos' große Liebe, der jugendliche Draufgänger und Junkie Rui, faszinierte ihn, er führte ihn in die Unterwelt ein, brachte ihn zum Heroin. Jetzt ist auch Rui tot, wird zusammen mit Carlos begraben.
In einem halluzinatorischen Furor rekapituliert Paulo sein Leben, die gescheiterte Ehe seiner Eltern, die Frage, ob Carlos wirklich sein Vater ist, die spießige Welt seiner Pflegeeltern, seine Entziehungskur, die noch nicht abgeschlossen zu sein scheint ... Aber nicht nur aus Paulos Perspektive werden die verschiedenen Leben und Schicksale beleuchtet, Lobo Antunes flicht die Stimmen der anderen Protagonisten kunstvoll mit ein. So kreist die Geschichte um die Identitätssuche Carlos', der inmitten der Gebeutelten und Getriebenen als einziger seinen Weg zu gehen scheint, während er die anderen in tiefe Selbstzweifel, ja zur Selbstzerstörung treibt.
Das neue Meisterwerk von Lobo Antunes schickt den Leser auf "eine faszinierende Reise in die gedankenschwere, derbe und meist fugendicht verschlossene Welt unter der Schädeldecke, eine Expedition in jene gefährlichen Bewußtseinsgegenden, wo die Sinne und der Geist sich kreuzen" (Süddeutsche Zeitung).
"Aber aus dem Rauschen sind die Stimmen herauszufiltern. So erzwingt die Lektüre eine Reindividualisierung. Daraus folgt, fast paradox, die Unsterblichkeit der Toten."
Autorentext
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als zwanzig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den "Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes", den "Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft" und den Camões-Preis.
Leseprobe
Ich war mir sicher, daß ich diesen Traum am Vortag geträumt hatte oder an einem Tag davor
am Vortag
und gerade deshalb dachte ich, ohne aufzuwachen
-Es lohnt nicht sich darüber den Kopf zu zerbrechen das kenne ich schon
denn ich war nicht an Geschehnissen interessiert, von denen ich wußte, daß sie nicht stimmten
-Ich schlafe
gestern hatten sie mich erschreckt, aber sie erschreckten mich nicht mehr
-Warum soll ich mich aufregen alles gelogen
war mir der Lage meines Körpers im Bett bewußt, einer Falte im Bettlaken, die mir am Bein weh tat, des Kopfkissens, das
wie immer
zwischen die Matratze und die Wand gerutscht war, die Finger
selbständig, allein
suchten es, packten es, holten es zurück, falteten es unter der Wange, die sich ihrerseits hineinfaltete, so daß ein Teil von mir das Kissen und ein Teil die Wange war, die Arme umfaßten den Bezug, und ich half den Armen
-Es sind meine
verblüfft darüber, daß sie mir gehören, war mir einer der Platanen am Zaun bewußt, nachts ein Fleck an der Scheibe, aber jetzt deutlich, trat sie in meinen Traum und hob meinen Kopf an
nur den Kopf, da die Bettlakenfalte mir immer noch weh tat
zum Fenster neben dem Büro, in dem der Arzt eine Information oder einen Bericht schrieb
der Schreibtisch, der Stuhl und der Tisch alt, die Tür immer offen, durch die die Kranken hineinspähten und bartstoppeldreckig und mit toten Augen um Zigaretten bettelten
ich war immer außerstande gewesen, im Restaurant die Fischaugen zu essen, mein Onkel stach mit der Gabel hinein, und ich schrie blind
mich nimmt niemand wahr, niemals hat mich jemand wahrgenommen, die Krankenpfleger begnügten sich damit, mich rauszuschieben
-Ist ja gut ist ja gut
und die Fische saßen mit ausgestreckten Händen auf Bänken, bettelten um Zigaretten, der Onkel hielt mit der Gabel inne
-Magst du die Augen nicht Paulo?
der Schreibtisch, der Stuhl, der Schrank, der Arzt, der irgend etwas unterschreibt, mich anstarrt, schnell die Gabel packt, sie der Meerbrasse, der Dorade nähert, ich mag Augen, Onkel
-Morgen kannst du nach Hause
und während ich wach wurde und sich eine Taube auf einem Platanenzweig auf und nieder wiegte, die Bettlakenfalte aufhörte, mir weh zu tun, der Fisch sich vom Kopfkissen löste, das ich nun doch nicht bin, und der Onkel vergnügt in diesen Traum vom Vortag zurückwich, in dem riesige Meeraale, von den Tabletten in Aufziehpuppen verwandelt, mich um Zigaretten anbettelten
-Magst du keine Augen Paulo?
beispielsweise der Ertrunkene links von mir, der gezeitenlangsam zur Oberfläche der Matratze aufstieg, seine Frau besuchte ihn immer sonntags mit einem Päckchen Pfirsiche, und er lehnte die Pfirsiche mühsam, wie aufgezogen ab, ohne die Geste zu beenden
-Hast du Zigaretten mitgebracht Ivone?
meine Mutter Judite, mein Vater Carlos, der Arzt, nicht dieser, aber ein dicker
ich erinnerte mich an die rote Krawatte, als ich eingeliefert wurde, an eine Zigeunerin, die schrie
oder war ich es, der schrie?
der Arzt
-Wie heißt deine Mutter?
und ich erinnerte mich auch an die Feuerwehrleute, die von Dona Helena gerufen worden waren, um meine Handgelenke festzuhalten
-Schön ruhig Junge
so viele Untertassen in der Küche, die zerschlagen werden mußten, die Vase unversehrt, die Zeiger der Uhr, die den Eintopf überwachten
-Zerstör uns
wenn die Feuerwehrleute mir anstelle des dicken Arztes mit der roten Krawatte helfen würden, nicht in diesem Büro, in einem Raum ohne Fenster oder Schrank, wo die Zigeunerin oder ich schrien, oder aber keiner von uns beiden, das Zerschellen des Geschirrs
-Wie heißt deine Mutter?
meine Mutter Judite mein Vater Carlos
-Hast du Zigaretten mitgebracht Ivone?
samstags fünf Zigaretten, aber die Zigaretten gehen aus, ein Bon für ein Glas Milch im Café, aber die Milch, die sich nicht halten kann, ergießt sich auf den Tresen, sobald man sie berührt, der Krankenpfleger wischt den Tresen ab, wischt uns die Jacke und das Kinn mit einem zerlöcherten Stück Stoff ab, dem Fossil eines Handtuchs, auf einem hoch oben angebrachten Brett schimpft der Fernseher
-Schmutzfinken
Kuchen, die zerbröseln, wenn man sie ißt, belegte Brote, deren Schinken Widerstand leistet, Zigaretten, die beim zehnten Streichholz am Filterende brennen, und eine kleine Flamme verschlingt die Watte
-Sie merken es nicht einmal die Armen
das Streichholz geht zu früh aus oder weigert sich auszugehen, verbrennt uns die Haut, die Gewißheit, daß ich dieser Tage, am Vortag oder am Tag vor dem Vortag geträumt habe, und warum sollte ich mir den Kopf zerbrechen, wo ich mich außer an vorgestern nur an eine Zigeunerin erinnere, die schrie, und daß sie mich mit Verbandmullknoten ans Bett fesselten, vielleicht an die Feuerwehrleute
-Schön ruhig schön ruhig
der Krug, den ich der Spüle gestohlen hatte, zerschellte auf dem Boden, Dona Helena in Tränen, ich muß diese Untertassen zerschlagen, die Vase unversehrt, beleidigt
wie sehr ich diese Vase gemocht hatte
die fragte
-Und ich?
der Arzt mit zwei oder drei Psychologen oder Studenten oder Kunden der Diskothek, in der mein Vater arbeitete, und der Platanenzweig hielt en…