Dem Thema der Geschlechterdifferenz wurde in der Wissenschaft nur wenig sichtbare Aufmerksamkeit gewidmet. Daher erstaunt es nicht, wie sparlich, frag mentiert und einseitig die Kenntnisse der Wissenschaften zu diesem Thema wirk lich waren. Wiihrend der letzten 15 Jahre wurde dies durch die Arbeit von Wissenschaft lerinnen deutlich, deren Bindungen an die Frauenbewegung eine veriinderte Wahmehmung und Wertung zunachst der eigenen Situation in der Wissenschaft zur Folge hatte und schlieBlich den Blick auf die Wissenschaft veriinderte. Seither wachst die Zahl der Studien tiber die abgewertete und vemachlassigte soziale Er fahrung von Frauen und die Ungleichheiten im Geschlechterverhaltnis. In den Sozialwissenschaften avancierte die Geschlechtskategorie allmiihlich zur "strukturrelevanten Statusrolle".1 Das ist ein Resultat gesellschaftlicher Veriinderungen wahrend der letzten Jahrzehnte, in denen Frauenrollen einen anderen Status einzunehmen begonnen haben. Ein Ausdruck davon ist die generelle VergroBerung von Rollenspielraumen fUr Frauen, mit der die Loslosung aus den dominanten Zuschreibungen der primaren Rollenmuster als Mutter und Ehefrau sowie sekundarer Berufstiitigkeit verbunden ist. In diesem ProzeB gehen traditionelle Bindungen der Frauenrolle nicht verloren, sondem veriindem sich durch Umschichtungen bei der Gewichtung von Statusrollen. Diese Entwicklung beeinfluBt nicht nur einzelne Bereiche in unserer Gesellschaft wie die Familie, sondem greift auch auf andere institutionelle Bereiche tiber. Die Kategorie Geschlecht in den Sozialwissenschaften erflihrt eine Bedeu tungserweiterung, so daB sie, vergleichbar mit theoretischen Konzepten von "Klasse" oder "Schicht", als grundlegende Dimension sozialer Organisation ver standen werden muB. Das ist eine folgenreiche These, deren moglicher Bedeutung ich in dieser Ar 2 beit nachgehe.
Inhalt
I. Einleitung.- II. Das Konzept soziales Geschlecht.- 1. Hintergrund der Sex/Gender-Debatte.- 2. Geschlechtsrollen: Kontroverse zwischen Biologie und Soziologie.- 2.1 Die Geschlechtsrollendifferenzierung bei Parsons und Bales.- 2.2 Das Geschlechtsdifferenzierungsmodell von Nancy Chodorow.- 3. Typisierungsschemata von Männlichkeit und Weiblichkeit.- 3.1 Normativität.- 3.2 Deskriptivität.- 3.3 Rollen als Sozialform.- 3.4 Handlungskonzepte: Dominierung und Aushandeln.- 4. Geschlechtergrenzen.- 4.1 Das System geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung.- 4.2 Geschlechtssegregation im Berufsbereich.- 4.3 Segregation als kulturelle und soziale Geschlechtergrenze.- 4.4 Symbolische Segregation.- 5. Zusammenfassung.- III. Rekonstruktion: Geschlecht und Modernität.- 1. Der Strukturzusammenhang zwischen öffentlicher und privater Sphäre.- 2. Universalismus versus Partikularismus.- 3. Rekonstruktion: Sphärentrennung und Geschlechtsrollen.- 3.1 Sozialstrukturelle Veränderungen.- 3.2 Entstehung von Charakterschemata.- 3.3 Geschlechtscharaktere und die Veränderung des Familienbegriffs.- 3.4 Die (Re-)Organisation geschlechtsspezifischer Tätigkeitsbereiche.- 3.5 Symbolische Polarität von Familie und Berufsarbeit.- 4. Die Sphärentrennung und die Arbeiterschicht.- 5. Die Dualität der Rollenidentifikation.- IV. Die normativen Dimensionen von Männlichkeit und Weiblichkeit.- 1. Das Geschlechterverhältnis als Relationsbeziehung.- 2. Konstitutionsmodelle von Weiblichkeit.- 2.1 Die Frau ist ein unvollständiger Mann.- 2.2 Weiblichkeit als Gegensätzlichkeit zur Männlichkeit.- 2.3 Weiblichkeitsbeschreibungen sind durch männliche Bedürfnisse charakterisiert.- 3. Das Begründungsproblem.- V. Stereotypen, Labels und die Konstruktion von Differenzen.- 1. Handlungsleitende Funktion von Geschlechtsrollenmodellen.- 2. Typisierungsschemata in der sozialpsychologischen Geschlechtsrollenforschung.- 2.1 Bipolares Modell.- 2.1.1 Unterschiedliche Bewertung der Geschlechtsstereotypen.- 2.1.2 Kritik.- 2.2 Androgynitätsmodell.- 2.3 Das Gender-Identity-Schema.- 3. Bedingungen, unter denen Geschlecht zur auffälligen Statusrolle wird.- 3.1 Tokenismus.- 3.2 Wahrnehmungseffekte.- 3.3 Polarisierungseffekte.- 3.4 Bestätigung von Zugehörigkeit und Loyalitätsfallen.- 3.5 Rollenstereotypen.- 4. Hierarchien und Opportunitätskontexte.- 5. Zusammenfassung.- 6. Auswertung.- VI. Feministische Theorien: Liberale Gleichheitskonzepte.- 1. Die theoretischen Grundlagen klassischer Gleichheitskonzeptionen.- 2. Individuum, Rationalität, Eigentum und Gleichheit.- 3. Frauen, Rationalität und Gleichheit.- 3.1 Mary Wollstonecraft.- 3.2 Harriet Taylor und John Stuart Mill.- 3.2.1 Gleichheit von Möglichkeiten.- 3.2.2 Geschlechtsdifferenzen.- 4. Zeitgenössische liberale Ansätze.- 4.1 Politisches Programm und Gleichstellungsstrategien.- 4.2 Kritik.- 5. Geschlechterdifferenzen und ihre Kritik.- 5.1 Soziale Konditionierung.- 5.2 Rollenbegriff.- 5.3 Das Ideal der Geschlechtsrollenmischung.- 5.4 Das Bewertungsproblem.- 6. Das Verhältnis von öffentlichen und privaten Bereichen als symbolische Geschlechtergrenze.- 6.1 Normativer Dualismus: Vernunft und Körper.- 6.2 Geschlechtergrenzen.- 7. Zum Verhältnis von Sex und Gender im liberalen Feminismus.- VII. Feministische Theorien: Die Politisierung des Reproduktionsbereiches.- 1. Die Zwei-System-Ansätze.- 1.1 Materialistische Patriarchatsanalyse plus materialistische Kapitalismusanalyse.- 1.2 Psychologische Patriarchatsanalyse plus materialistische Kapitalismusanalyse.- 1.3 Sex/Affective Production.- 2. Die Trennung zwischen häuslicher und öffentlicher Sphäre: eine falsche Universalität?.- 3. Zur Rekonzeptionalisierung des Begriffes Reproduktion.- VIII. Geschlechtssymbolismus und Wissenschaftskritik.- 1. Die Männlichkeit (in) der Wissenschaft.- 2. Geschlechtssymbolismus.- 3. Gibt es typisch männliche Sichtweisen in der Wissenschaft?.- 4. Objekt-Relationstheorien und männliche Erfahrungen.- 5. Exkurs: Der Status der Psychoanalyse.- 6. Der Status des psychosexuellen Entwicklungsmodells in der philosophischen Wissenschaftskritik.- 7. Kritik.- IX. Institutionalisierung und Professionalisierang genuszentrierter Forschung.- 1. Institutionalisierung feministischer Positionen: Möglichkeiten und Widerstände.- 1.1 Gegenstandsbereich.- 1.2 Epistemologien.- 2. Disziplinäre Anerkennungsbarrieren in der Soziologie.- 2.1 Anerkennungsdefizite.- 2.2 Soziologischer Euphemismus.- 3. Institutionelle Sozialstrukturen.- 4. Epistemologische und konzeptuelle Immunisierungen.- 5. Originalität oder Wiederholung?.- 6. Formalistische Sicht des Wissenschaftsfortschrittes.- 7. Zusammenfassung.- X. Schlußbemerkung.